Der faschistoide Mensch
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Einleitung 1
1. Teil - Vorgeschichte 2
2. Teil - Die Union 7
3. Teil - Aufstieg und Fall 20
4. Teil - Im Gefängnis 26
Schlussbetrachtung 31
Anhang 1 - Exkurs
Anhang 2 - Quellenangaben
Quellenverzeichnis
Weiterführende Literatur
Einleitung
Als Kind hörte ich davon, dass es da mal einen Krieg gab und dass dieser
von einem ganz bösen Mann namens Adolf Hitler angefangen wurde. Dann
kam ich in die Bezirksschule. Dort erfuhr ich dann etwas konkreter, was in
der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts vorgefallen war, und zum ersten
mal tauchten Begriffe wie Nationalsozialismus, Holocaust, Rassismus und Faschismus
auf. Etwa zur selben Zeit waren auch Bücher wie die Welle und das Tagebuch
der Anne Frank ein Thema. Was ich nie mehr vergessen werde ist, wie ich mich
damals an der Abschlussprüfung mit der Frage "Was ist Faschismus?"
konfrontiert sah, und keine Ahnung hatte, was der Lehrer von mir hören
wollte.
Etwas später wurde das Thema in der Berufschule wieder aufgegriffen und
tauchte auch an anderen Stellen immer wieder auf, so sah ich Filme wie Spielbergs
Schindlers Liste, sah Dokumentationen im Fernsehen und lass in den Zeitungen
von Anschlägen auf Asylheime, und langsam fragte ich mich, was bringt
Menschen dazu, solch entsetzliche Taten zu verüben. Das führte mich
schliesslich zur Frage: Was steckt hinter dem Faschismus? - Oder: Was bringt
Menschen dazu faschistisch zu werden? Dazu müssen offenbar gewisse Eigenschaften,
sprich Charakterzüge im Menschen vorhanden sein, die es ermöglichen,
das er zum Faschist wird. Der Fachbegriff, der diese Eigenschaften umfasst
ist faschistoid.
Ziel dieser Arbeit ist es, eine grobe Übersicht über die faschistoiden
Züge eines Menschen und die damit verbundene Problematik zu verschaffen,
und Anstösse zur weiteren Vertiefung zu geben.
Ich habe mir lange überlegt, wie so eine Arbeit aussehen soll. Ich hatte
die Möglichkeit, die ganze Theorie aufzuarbeiten, und damit einen Einblick
in die verschiedenen Ansätze zu bieten. Diese Theorien sind jedoch gewöhnlich
sehr abstrakt und ohne konkrete Beispiele kaum oder nur sehr mühsam zu
verstehen. Ausserdem bestünde Gefahr, dass die Arbeit zu einer reinen
Ansammlung von unterschiedlichen Theorien verkommen würde, ohne den Kern
des Problems zu erfassen. So entschloss ich mich dazu, das Problem faschistoider
Züge an einem konkreten Beispiel zu erörtern. Ich erschuf eine fiktive
Persönlichkeit, welche eine Vielzahl faschistoider Merkmale aufweist,
und schrieb ein auf sie passendes Tagebuch. Dieses Tagebuch habe ich dann
einer Analyse unterzogen, deren Ziel es war, diese typisch faschistoiden Charaktereigenschaften
hervorzuheben. Diese Methode hat jedoch auch einen Nachteil. Verschiedene
Faktoren machen es schlicht weg unmöglich, sich ihm Rahmen dieser Vorgehensweise
umfassend mit dem Thema zu befassen:
Es gibt zahlreiche Theorien und Ansätze, die nicht alle berücksichtigt
werden können.
Eine ausführlichere Behandlung einiger angesprochener Gebiete der Psychologie,
wie dasjenige der Aggressionstheorien, wäre zu umfangreich.
Einzelne Randthemen, wie die oft auch wesentliche Berücksichtigung wirtschaftlicher
Aspekte, werden nur gestreift.
Auch Fallunterscheidungen verschiedener Charaktere können kaum einbezogen
werden.
Angesichts dieses Handicaps, habe ich aus der Fülle von Informationen
meiner Vorarbeit vor allem diejenigen Aspekte in die Arbeit einfliessen lassen,
die meines Erachtens die Problematik am deutlichsten und plausibelsten erfassen.
1. Teil - Vorgeschichte
Dienstag, 9. Januar
Herr Müller hat uns heute im Geschichtsunterricht etwas über die
Eroberungen der alten Römer erzählt. Man konnte deutlich seine Bewunderung
für die grossen Heerführer des römischen Reiches und nicht
zuletzt auch für Julius Caesar spüren, und ich teile seine Bewunderung.
"Er zeigte Barmherzigkeit jenen, die ihm treu, tapfer und opferbereit
zur Seite standen, aber auch Härte jenen gegenüber, die ihm mit
Missgunst entgegneten und seine Grosszügigkeit mit Füssen traten.
Ein Kaiser, wie er sein sollte, hart aber gerecht." Mit diesen Worten
rühmte Herr Müller Caesar als einen der grössten Herrscher
aller Zeiten.1) Natürlich musste auch Rolf wieder seinen Senf dazu geben.
Er beschimpfte den römischen Imperator als Schlächter und Sadist.
Aber Herr Müller wäre nicht Herr Müller, wenn er ihn nicht
gleich des besseren belehrt hätte, indem er Rolf erklärte, dass
nun mal Opfer gebracht werden müssten, um Recht und Ordnung unter die
barbarischen Völker zu bringen. Rolf gab sich damit natürlich nicht
zufrieden, nein, er musste weiter provozieren. Bezeichnete er doch die Meinung
von Herrn Müller als militant und elitär, was auch immer das heissen
mag. Ja, er trieb es soweit, dass Herr Müller gezwungen war, ihn des
dem Schulzimmers zu verweisen.2)
Am Abend erzählte ich Vater davon, denn ich weiss, dass er selber auch
tiefe Bewunderung für die grossen Helden unserer Geschichte hegt. Vermutlich
ist es deshalb auch so einfach für meinen Bruder, sich mit seinen vielen
Auszeichnungen und Belobigungen als verdienter Hüter des Gesetzes bei
ihm einzuschleimen. Natürlich war Vater etwas müde vom harten Arbeitstag
und mochte nicht lange zuhören. So hielt ich mich kurz, damit er sich
nicht allzu sehr anstrengen musste. Etwa um halb sieben kam Willy nach Hause,
pünktlich, wie man es von einem Polizisten erwartet, zum Abendessen.
Kaum hatte er sich hingesetzt, Mutter nahm gerade seinen Teller, um ihm zu
schöpfen, begann er wieder zu prahlen, wie er heute wieder etliche Drogen
beschlagnahmt habe. Und Vater war wieder genötigt, ihm mit freudigem
Gesicht aufmerksam zuzuhören. Natürlich ist Vater stolz auf ihn,
aber muss er sich das deshalb jeden Abend anhören?3)
1) Es wird deutlich, dass Herrn Müllers Ausführungen besonders Ideale
des Herrschers und die Tugenden der Unterworfenen hervor heben. Zugleich lässt
er Kritik, welche die Nachteile eines hierarchischen Systems wie dasjenige
der antiken Römer beinhaltet nicht zu. Herr Müller ist das Beispiel
einer Autoritätsperson, die ihre Autorität missbraucht. Gerade die
Tatsache, dass er Lehrer ist, ist besonders gefährlich, da die Kinder
erzogen und entsprechend gewohnt sind, den Worten eines Lehrers Glauben zu
schenken.
2) Der Protagonist (künftig P genannt) akzeptiert die (missbrauchte)
Autorität seines Lehrers bedingungslos. Rolf dagegen übt Kritik
an der Autorität. Scheinbar wusste Rolf schon vor dem Unterricht einiges
über das Thema und ist unter Umständen bereits in seinen jungen
Jahren eine eher kritische Person, die sich gerne selber von Tatsachen überzeugt
und fähig ist eine eigene Meinung auszubilden und auch dazu zu stehen.
Ganz anders P: Bei ihm findet man nicht die geringste Spur von Kritik. Für
ihn ist Herr Müller der Lehrer, der weiss, wovon er spricht und Rolf
der Schüler, der nur provoziert. Dass Herr Müller Lehrer, älter
und erfahrener ist, heisst für P offenbar automatisch auch, dass Herr
Müller immer recht hat.
3) Im letzten Abschnitt vom 9. Januar kommt die Familie ins Spiel. Obwohl
der Vater scheinbar dem Bruder mehr Beachtung schenkt als P, richtet sich
P's Abneigung nicht gegen den Vater sondern gegen den Bruder, dass dieser
Polizist ist und auch gerne davon erzählt, stützt und verstärkt
die Antipathie. Betrachtet man mit welch übertriebener Behutsamkeit und
Rücksichtsnahme P dem Vater entgegnet, kommt man der Erklärung dafür
näher: Der Vater ist wie auch Herr Müller eine Autoritätsperson,
deren Autorität die P kritiklos akzeptiert und nie hinterfragt. Der Schluss
liegt Nahe, dass P Angst hat vor der Autorität des Vater oder des Lehrers,
denn Autorität ist immer auch mit einer gewissen Macht verbunden, einer
Macht, die sich, wenn's dumm läuft, auch gegen P richten könnte.
Kritik ist daher nicht möglich, da P sich vor den Konsequenzen fürchtet.
Dieses stillschweigende Akzeptieren und das damit verbundene Zurückhalten
von Emotionen führen dazu, dass sich eben diese Emotionen langsam in
Form von Aggressionen aufstauen, denen es nach Entladung verlangt. Diese Aggressionen
bekommen dann gerade jene zu spüren, welche die erwähnte Angst vor
der Autorität nicht haben und daher Kritik üben können, wie
Rolf oder ihre Emotionen rauslassen, wie der Bruder, der sich seines Berufes
freut und keine Scheu zeigt, dem Vater davon zu erzählen, ob er es nun
hören will oder nicht.
Sonntag, 28. Januar
Michael und ich waren heute auf der Eisbahn. Es wimmelte wieder geradezu von Ausländern. "Manchmal habe ich das Gefühl, es gibt mehr Ausländer in der Schweiz als Schweizer", meinte Michael und er hat recht. Es ist wirklich schlimm, man kann hingehen, wo man will, sie sind überall. Wenn sie sich wenigstens ein wenig anpassen würden. Aber stattdessen verbreiten sie ihren eigenen düsteren Kult, hören Hip Hop, um gegen unsere Musik zu rebellieren, kleiden sich möglichst cool, um ja als Fremde aufzufallen, und dann sehen sie einen immer mit einem besonders düsteren Blick an, damit man ihnen ja nicht zu nahe kommt, und wehe, man schaut zurück, dann wird man verdroschen, nicht etwa nur von einem, nein, sie holen gleich ihre Freunde, die meistens sowieso Brüder oder Cousins oder so was sind.4)
Mittwoch, 14. Februar
Jennifer. Der Name geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie ist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe, nein, mehr noch: das schönste Mädchen, das die Welt je gesehen hat. Als ich sie heute zum ersten Mal sah, hab ich mich gleich unsterblich in sie verliebt. Sie ist gerade erst in die Stadt gezogen. Und wohnt in der selben Strasse wie Michael. Hätte ich doch nur den Mut, sie anzusprechen, aber was sollte ich ihr denn sagen? Ich bin so aufgeregt, selbst Michael hatte mich kaum wiedererkannt. Er meinte, ich solle nicht zögern und sie einfach ansprechen, mir würde dann schon was einfallen, dabei bin ich doch viel zu nervös dazu. Aber eines steht fest, ich muss sie wiedersehen, koste es was es wolle.5)
4) P ist ein Mensch, der zu Stereotypenbildung neigt (siehe auch Punkt 5)
). Das bedeutet, dass er sich an feste und unveränderliche Sichtweisen
(Stereotypen) klammert, die seine Werte bestimmen. Sein Stereotyp (also seine
Sichtweise) des Ausländers ist unter anderem, dass man von ihm verdroschen
wird, wenn man ihn ansieht. Ein wesentliches Merkmal von Stereotypen ist,
dass sie am Individuum gebildet, jedoch auf die Allgemeinheit angewendet werden.
So meint P, alle Ausländer würden ihn verprügeln, wenn er sie
nur ansieht. Stereotypen sind für ihn notwendig, da er sich bei der Informationsverarbeitung
nach ihnen richten oder sich an ihnen orientieren kann und damit weiss, wo
er neue Inputs einordnen kann. Die Stereotypenbildung ist somit eine Art die
Fülle von Information, die man in seinem Leben ständig erhält,
zu verarbeiten. Ohne seine Stereotypen würde er in der Informationsflut
hilflos versinken. Hinzu kommt, dass Stereotypen, da sie ja starr und nahezu
unveränderlich sind, das Gefühl vermitteln können, man könne
durch sie alles festhalten und alles werde dadurch immun gegen die Veränderungen,
welche die Zeit mit sich bringt. So verschaffen Stereotypen ein Gefühl
der Sicherheit. Eine häufige Reaktion auf das Fremde oder auch auf das
Neue ist Furcht. Man sieht das Fremde als Bedrohung. Diese Bedrohung kann
als eine Gefährdung der gewohnten und bewährten Lebensumstände
gesehen werden. Man hat Angst, dass das Neue und Fremde alles verändert,
was man sich gewohnt ist und was sich bislang bewährt hat. Diese Angst
wird umso stärker (und kann sich auch in Richtung Paranoia steigern),
je mehr die gewohnte Umgebung an Stereotypen geknüpft ist, denn müsste
man die Stereotypen aufgeben, so gäbe man dann auch das Gefühl der
Sicherheit auf, dass sie verursachen. Dies verhindert natürlich eine
ernsthafte oder, wenn man so will, seriöse Auseinandersetzung mit der
fremden Kultur oder überhaupt mit allem Fremden.
5) Die Verliebtheit löst bei P wie wohl bei den meisten oder allen Menschen
Euphorie aus. In seiner Euphorie neigt P zu absoluten Aussagen, wie seine
Liebe sei unsterblich und Jennifer sei das schönste Mädchen der
Welt. Ebenso absolut ist die Aussage "koste es, was es wolle". Sie
zeigt, dass P eine ausgeprägte fanatische Seite hat. Dennoch ist die
Euphorie, die hinter diesem noch leicht fanatischen Hang zum Absoluten steckt,
durchaus nichts ungewöhnliches, man kennt sie aus vielen Märchen.
Welcher Prinz jagt nicht der schönsten Prinzessin hinter her und ist
nicht unsterblich in sie verliebt? Und welcher Prinz würde nicht alles
geben, um sie auch zu bekommen? Das ungeduldige und erwartungsvolle Kind findet
im Märchen Befriedigung, weil es einerseits das einfache Modell, das
dahinter steckt versteht, denn es besteht nur aus Extremen wie gut und böse
oder die schöne' Prinzessin und die hässliche' Hexe
und andererseits, weil es halt immer gut ausgeht. Dabei erreicht der Held
sein Ziel oft, gerade indem er es unentwegt verfolgt und eben nahezu fanatisch
absolut alles tut, um es zu erreichen. Die Realität dagegen kennt nicht
einfach nur gut und böse. Gelingt dem Kind die Loslösung von dieser
Gut-Böse-Mentalität seiner Kindheit nicht, bleibt ihm im Umgang
mit der Umwelt als einziger Ausweg nur, sich die Realität mit Vorteilen,
Schwarz-Weiss-Denken und Selbstbetrug zurechtzurücken, da es sich mit
seinem beschränkten Weltbild (Stereotypen) nicht mit komplexen Zusammenhängen
auseinandersetzen kann.
Donnerstag, 8. März
Heute ist etwas Schreckliches geschehen. Als Michael und ich von der Schule nach Hause gingen, sahen wir in der Nähe des Einkaufszentrums ein paar Ausländer, die einfach nur so herumhockten und rauchten. Ich sagte, ohne gross darüber nachzudenken, dass die wohl nichts Besseres zu tun hätten. Plötzlich rief Michael zu ihnen hinüber: "Hey, habt ihr nichts Besseres zu tun?" Ich konnte es kaum fassen, dass er das wirklich tat. Ehe wir uns versahen, standen sie um uns herum, fixiert auf Michael. Einer von ihnen trat vor ihn hin, schupste ihn und fragte, ob er ein Problem hätte. Ich stand nur da und schaute die anderen an, wie sie wütend auf Michael starrten. Einen kannte ich sogar, er war ein Schweizer, aber er war gekleidet wie sie, und er sah aus wie sie. Ich dachte nur, jetzt fangen sie schon an Schweizer zu bekehren, als ich hörte, wie Michael sagte: "Ihr seid mein Problem." Dann schlugen sie ihn zu Boden. Einer trat ihm noch in den Bauch, dann verschwanden sie wieder. Und ich stand nur da und sah zu. Wir haben auf dem Rest des Heimweges kein Wort mehr gesprochen.6)
Dienstag, 27. März
Herr Müller war heute wieder in Höchstform. Obwohl ich etwas müde war und eigentlich kaum noch weiss, was er heute erzählt hat, war der Unterricht äusserst witzig. Nur schon seine Gesten zu beobachten, ist ein echtes Vergnügen. Wenn er mit gestrecktem Zeigefinger die Hand erhebt und völlig angespannt damit herum fuchtelt, geschweige denn, ungeschickt wie er ist, durch seine hastigen Bewegungen etwas von seinem Pult zu Boden wirft. "Wir schreiben das Jahr 4767)", begann er, "wer kann mir sagen was, in diesem Jahr passiert ist?" Rolf hob die Hand. Und nur schon Herr Müllers Reaktion darauf, spricht für ihn: "Dass du das weisst, ist mir klar. Sonst noch jemand?". Ja, Herr Müller lässt sich nicht von Strebern und Schleimern einwickeln, wie es andere Lehrer zuweilen tun, das schätze ich an ihm.
6) An diesem Donnerstag macht P eine Erfahrung, in der seine Angst vor den
Ausländern ihre Legitimation erhält. Wer Ähnliches auch schon
erlebt hat, der kann vielleicht ebenso eine gewisse Abneigung gegen Ausländer
nachvollziehen, wie auch den Gedanken, sich an ihnen zu rächen. Es liegt
auf der Hand, dass ein Mensch wie P, der völlig von seinen Emotionen,
ganz besonders Ängsten beherrscht wird, von diesem Einzellfall auf das
Allgemeine schliessen wird, das heisst von diesen Prügelknaben auf alle
Ausländer. Wie stark seine Abneigung nach diesem Ereignis wachsen muss,
kann man sich denken, wenn man sich überlegt, wie gedemütigt, hilflos
und zugleich feige er sich fühlen muss, während er tatenlos nebenbei
steht. Möglicherweise kann man sogar verstehen, das er sogar ignoriert,
dass Michael die Ausländer provoziert hat.
7) Diesmal lässt P den Inhalt des Unterrichts weg. Er erwähnt nur
das Datum 476, und wenn man weiss, dass es das Jahr des Untergangs des römischen
Reiches ist, wird einem auch klar, weshalb er den Inhalt weglässt: Wie
sein Lehrer ignoriert er die Informationen, die ihm nicht gefallen. Unter
Punkt 5) habe ich eine mögliche Erklärung für dieses Verhalten
bereits erwähnt. Ganz ähnlich ist auch der folgende Punkt 8).
Freitag, 13. April
Heute haben wir die Französischprüfung der vergangen Woche zurück
erhalten. Ich wusste ja, dass ich nicht besonders gut war, aber gleich eine
2. Wie wird wohl Vater darauf reagieren. Bestimmt wird er wieder damit anfangen,
mir Predigten zu halten, die dann sowieso nur damit enden, mir klar zu machen,
dass das Willy nie passiert wäre. Und das nur wegen dieser dämlichen
Sprache. Wer spricht heute noch französisch ausser diesen eingebildeten
Franzosen?8)
Wenigstens war es nicht nur ein schlechter Tag. Am Nachmittag war ich bei
Michael. Wir haben etwas ferngesehen. Gegen den Abend lief ein Western mit
Clint Eastwood, den ich nur zu gerne zu Ende gesehen hätte. Ich hab ihn
zwar schon öfters gesehen, doch ist es jedes Mal aufs neue ein Vergnügen.
Ich mag vor allem die Schlussszene, wenn Clint Eastwood den Bösewicht,
irgend so einen dreckigen, hässlichen Mexikaner, in der Morgendämmerung
erschiesst. 9)
Aber Michael bestand dann darauf, die Nachrichten zu sehen. In Aarau haben
ein paar Ausländer einen alten Mann niedergeschlagen und ausgeraubt.
"Da siehst man's wieder, die sind doch wirklich alle gleich, einer wie
der andere", sagte Michael und, wie so oft, gab ich ihm recht. Und er
fuhr fort: "Wo führt das noch hin, wenn man im eigenen Land, nicht
mehr sicher ist. Und was tun wir Schweizer dagegen? Vertreiben wir diesen
Abschaum aus dem Land? Nein, wir holen noch mehr Gesindel rein. Wir sitzen
da, hören uns Moralpredigten zum Thema Rassismus an und schweigen und
ab. Und zu wird wieder einer von uns krankenhausreif geprügelt, abgestochen
oder erschossen."10)
Er hat vollkommen recht. Wir sind wie die jämmerlichen Angsthasen im
Western, den wir leider nicht zu Ende gesehen haben, die armen' Wild-West-Stadtbewohner,
die den skrupellosen Gangstern hilflos ausgeliefert sind und verängstigt
auf den grossen Helden warten, der sie endlich erlöst. Und der Sheriff
der Stadt, was tat der? Nichts. Genau wie unsere Polizei, genau wie unser
Familienidol Willy. Vielleicht ist ein Clint Eastwood genau das, was wir brauchen,
jemand, der mit gutem Beispiel voran geht und den Müll beseitigt.11)
8) P ist unfähig, sich einen Fehler eingestehen zu können. Stattdessen
dreht und wendet er die Sache so, dass er sein Versagen auf das Fach abschieben
kann, dass günstigerweise eine ausländische Sprache darstellt, die
von eingebildeten' Ausländern gesprochen wird.
9) Film und Gewalt ist zwar ein anderes Thema und soll auch nur kurz erwähnt
sein, aber es darf auch nicht völlig ausser Acht gelassen werden. Gerade
auch im jungen Alter von P sieht sich der Mensch mehr und mehr mit den Massenmedien
konfrontiert und wird auch von ihnen mehr oder weniger stark beeinflusst.
Es ist nicht selten der Fall, das sich Brutalität vor romantischer Kulisse
abspielt. Und häufig sind die Helden solcher Filme mit Rachegedanken
behaftet, was dann ihre Gewalt berechtigen soll. Das P die Nachrichten nicht
sehen will, weisst auf das hin, was ich unter Punkt 5) angesprochen habe,
es ist ein Indiz, dafür, dass P sich zu wenig mit der Realität auseinandersetzen
kann, und die Nachrichten deshalb meidet.
10) Das Problem zwischen Ausländern und Schweizern in der Schweiz ist
real. Vorurteile und Klischees sind weit verbreitet. Man erlebt Ausländerfeindlichkeit
auf der Strasse, in der Schule oder am Arbeitsplatz, aber auch am Stammtisch
oder sogar zu Hause. Zu leicht werden Vorurteile, weil immer wieder gehört,
zur Gewohnheit. Nimmt man nur mal die Sätze, die Michael von sich gibt:
"Da siehst man's wieder, die sind doch wirklich alle gleich, einer wie
der andere". So oder so ähnlich hat diese Sätze wohl jeder
(sicherlich in der Schweiz) schon mal gehört. Das ein Kind, welche sie
öfters in der familiären Umgebung hört, sie übernimmt,
ist kaum verwunderlich. Tatsächlich werden jugendliche Ausländer
häufig auch kriminell und bekräftigen die Vorurteile. Ebenso hört
man auch immer wieder von Fällen in denen das Asylrecht missbraucht wurde.
Und auch die Unfähigkeit, sich mit fremden Kulturen auseinander setzen
zu können, ist beiderseits weit verbreitet. In diesem Unfeld überrascht
dass Aufkommen von rechtsradikalen Gruppierungen wenig, und umso weniger,
je mehr die Mitglieder selber schon schlechte Erfahrungen mit Ausländern
gemacht haben.
11) Der Eintrag vom 13. April ist ein Beispiel dafür, wie sich die Fantasie
des Films und die Realität in assoziativen Denkvorgängen vermischen
können:
P sähe sich wohl selber am liebsten in der Rolle des Helden. Dieser hebt
sich einerseits von den andern ab, weil er derjenige ist, der den bösen
Mexikaner, den Ausländer besiegt, anderseits, indem er nicht so ein feiger
Angsthase ist, wie diejenigen, die er beschützt. Dieser Held ist der
absolute Narzisst: Er stellt sich selber über die andern und erniedrigt
diese zugleich, in dem er sie als Feiglinge verachtet.
Freitag, 11.Mai
Als ich heute von der Schule nach Hause kam, empfing mich Vater mit ernsten Blick. Er sass am Esstisch und bat mich, ich solle mich ebenfalls setzen. Mutter war in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Ich ahnte bereits, worum es ging, und ich hatte recht. Die Französischlehrerin hatte am Nachmittag angerufen und Mutter erzählt, dass sie sich langsam Sorgen betreffend meiner Noten mache. Vater wollte wissen, weshalb ich ihm nichts davon erzählt hätte. Ich sagte ihm, ich hätte es vergessen, darauf schlug er wütend mit der Faust auf den Tisch. Danach richtete er seinen Zeigefinger auf mich und mahnte mich, ich solle ihn nicht anlügen; also sagte ich ihm die Wahrheit, dass ich einfach Angst gehabt hätte. Und wie erwartet kam die übliche Reaktion: Angst sei nur was für Schwächlinge, ich solle mir gefälligst ein Beispiel an meinem Bruder nehmen. Ich entschuldigte mich bei ihm, denn er hatte Recht. Angst ist nur was für Schwächlinge. Vater stand auf, sass vor den Fernseher und sagte zu Mutter, die von der Küche aus mitgehört hatte: "Sag deinem Sohn, dass er eine Woche Hausarrest hat." Ich ging zu Mutter in die Küche, schloss die Türe hinter mir, und sagte ihr, dass ich am Samstag eine Verabredung mit Jennifer hätte. Doch sie antwortete nur: "Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat."12)
Mittwoch, 6. Juni
Michael, Jennifer und ich waren gerade auf dem Heimweg, als Michael plötzlich die Idee hervor brachte, wir könnten doch noch zusammen in die stillgelegte Schuhfabrik einbrechen. Er benutzte nicht das Wort einbrechen, doch genau das war es im Grunde, ein Einbruch. Deshalb weigerte ich mich zuerst, doch er liess nicht locker, und Jenny schien auch nicht abgeneigt zu sein, und als er schliesslich meinte, ich sei einfach zu feige dazu, erklärte ich mich einverstanden und ging mit. Ich mag vieles sein, aber ganz bestimmt kein Feigling.13)
12) Als Michael verprügelt wurde, gingen er und P nach Hause, ohne darüber,
was geschehen ist, nur ein Wort zu verlieren. Das gibt durchaus Anlass dazu,
anzunehmen, dass sie gar nicht in der Lage sind, darüber zu sprechen,
geschweige denn, sich mit ihren Gefühlen wirklich auseinander zusetzen.
Noch schlimmer ist das, was der Vater jetzt tut. Er redet' zwar mit
P, aber was er sagt, bedeutet für P das, dass er den Fehler gemacht hat,
Angst zu haben, denn das haben nur Feiglinge. P weiss, dass Angst tatsächlich
ein unangenehmes Gefühl ist und bekanntlich geht er seinen Ängsten
gewohnheitsmässig lieber aus dem Weg, als sich ihnen zu stellen. Gut
möglich, dass das nebst dem Problem mit der Autorität des Vaters
(siehe Punkt 3) ) mit ein Grund ist dafür, dass er gerade jenen Teil
des Tadel akzeptieren kann, in dem der Vaters meint, nur Feiglinge hätten
Angst. Feiglinge haben Ängste, sonst wären sie keine Feiglinge.
Indem sich P seine Feigheit nicht eingestehen kann, zeigt er, dass er Angst
hat sich einzugestehen, dass er Ängste hat und das heisst, er will seine
Ängste nicht wahrhaben.
In dem der Vater P zur Strafe nun nicht mal mehr direkt anspricht, behandelt
er ihn auch gleich wie einen Feigling, der nicht würdig ist, von ihm
angesprochen zu werden. Die Mutter steht hinter dieser Methode, vielleicht
weil sie genauso denkt wie ihr Mann, oder aber weil es sich noch um einen
sehr altmodischen Haushalt handelt, in dem die Mutter kaum etwas zu sagen
hat. War die Strafe ursprünglich für die schlechte Note gedacht
und dafür, dass P nichts davon gesagt hatte, so ist sie nun dafür,
dass er Angst hatte und das ist die Schuld, die er selber anerkennt.
Das Versagen der Kommunikation, sprich die Unfähigkeit über Konflikte
reden und sie klären zu können, taucht immer wieder auf und ist
ganz wesentlich für spätere Ereignisse.
13) Spätestens nun dürfte es klar sein, wie es um P's Willen steht.
Lieber tut er etwas unrechtes, als dass er für einen Feigling gehalten
wird, also für jemand der Angst hat. Diese Tatsache macht ihn besonders
beeinflussbar.
2. Teil - Die Union
Montag, 13. August
Heute war der erste Schultag des letzten Schuljahres. Gleich zu Beginn empfing uns der Rektor mit einer schrecklichen Nachricht. Herr Müller war entlassen worden. Ich wollte natürlich wissen wieso, denn irgendwie ahnte ich es schon. Einige Eltern hatten sich über seine Lehrmethoden beklagt, und dann redete der Rektor noch etwas von fragwürdigen Inhalten den Lernstoff betreffend. Natürlich waren Rolfs Eltern bei dieser Hexenjagd mit von der Partie. Ich bin empört und fassungslos. Da hat man mal einen Lehrer, der es versteht, die Schüler zu fesseln und durch seine lebendige Art ihr Interesse am Unterricht zu wecken14), und dann wird im einfach gekündigt. Aber es geht ja nicht nur mir so, auch Michael war entsetzt, als er es hörte. Jennifer schlug vor, einen Brief ans Rektorat zu schreiben, um unsere Empörung auszudrücken. Michael war jedoch entschieden dagegen. Das bringe sowieso nichts, meinte er und ich gab ihm recht. Ändern kann man sowieso nichts daran, aber, und das war meine Idee, wir können es wenigstens jemandem heimzahlen, der zu Herrn Müllers Entlassung beigetragen hat: Rolf. Jennifer will damit nichts zu tun haben. Aber Michael beteuerte, dass ich auf seine Hilfe zählen könne.15)
Donnerstag, 16. August
Heute hätte Herr Müller uns wie immer Geschichte unterrichtet, hätte man ihn nicht entlassen. Und heute war auch der Tag der Rache. In der Zehn-Uhr-Pause lockte Janine, eine gute Klassenkameradin, Rolf ins Schulzimmer, wo wir ihn fesselten und ihm die Hose auszogen. Alles klappte hervorragend. Die Schüler kamen pünktlich, knapp vor dem neuen Geschichtslehrer, ins Schulzimmer. Das Gelächter war im ganzen Schulhaus zu hören, was für ein Genuss.
14) P kann absolut nicht verstehen, dass man Herr Müller gefeuert hat.
Für ihn war er ein ausgezeichneter Lehrer. P schreibt davon, dass er
die Schüler zu fesseln vermochte. Seine Methode Schüler wie P für
sich zu gewinnen, basierte gerade darauf das Grosse, das Mächtige und
das Extreme hervor zu heben, denn genau diese Extreme sind es, die den grössten
und vor allem bleibenden Eindruck hinterlassen. Jeder Kinotrailer hat zum
Zweck, das Publikum mit einer Vorschau anzulocken, welche die Extreme und
die Höhepunkte des Films enthält. So dürfte es einem Geschickten
Redner auch leicht fallen, jemanden wie P (siehe Punkte 4) und 5) ), in seinen
Bann zu ziehen.
15) Indem P Jennifers Vorschlag ausschlägt, tut er das, was er sich von
zu Hause her gewohnt ist: Er geht dem klärenden Gespräch mit der
Autorität, diesmal der Schulleitung aus dem Weg. Zugleich vermeidet er
damit auch, dass seine Illusion des idealen Lehrers, den er in Herrn Müller
sieht, zerstört wird, womit er einmal mehr vor seinen Ängsten flüchtet.
Dass er seinen vorbildlichen' Lehrer verloren hat und nicht in der Lage
ist sich mit den Gründen auseinander zusetzen, versetzt ihn in eine Ohnmacht,
die er auf die eine oder andere Weise überwinden muss, denn mit dieser
frustrierenden Ohnmacht ist getreu dem Frustrations-Aggressions-Prinzip das
Aufstauen von Aggressionen verbunden, denen es nach Entladung verlangt. Als
Ventil eignet sich Rolf, der es wagte Kritik an Herrn Müllers einseitigen
Ausführungen zu üben, natürlich ausgezeichnet und wird somit
zum idealen Feindbild.
Natürlich wurden wir anschliessend zum Rektor geschickt, wo wir uns die
üblichen Standpauken anhören durften und eine Menge Strafarbeit
beim Abwart aufgebrummt bekamen. Dazu kam wieder mal eine Woche Hausarrest,
als Vater davon hörte und es war mir scheissegal. Das erste Mal habe
ich etwas getan, um der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen, zum ersten Mal
habe ich mich gewehrt, und es war toll. Ich will mehr.16)
Donnerstag, 23. August
Nun ist es genau eine Woche her, dass wir Rolf vor der ganzen Klasse, was sag ich, vor der ganzen Schule blamiert haben. Jennifer war alles andere als begeistert von unserer Aktion. Die ganze Woche hat sie kein Wort mit mir gesprochen, und heute meinte sie, sie wolle erst mal etwas Abstand, bis ich wieder etwas normaler wäre. Ich weiss nicht, was das soll, ich habe zum ersten Mal etwas getan, worauf ich wirklich stolz bin, und ich lasse mir sicher nicht ein schlechtes Gewissen einreden, schliesslich hat er es wirklich verdient, so respektlos wie er Herrn Müller behandelt hat, und Michael denkt genau so.17)
16) Der Rachegedanke ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Die Legitimation
der Rache ist stets ein stark umstrittenes Thema, wozu nur als extremes Beispiel
die Diskussion zum Thema Todesstrafe erwähnt sein soll. Tatsache ist,
dass das Bedürfnis nach Vergeltung natürlichen Gefühlen zu
Grunde liegt, die wohl jeder schon in der einen oder anderen Weise erfahren
hat, und deshalb auch jeder auf seine eigene Weise irgendwie auch verstehen
kann. Gerade dieser Umstand macht es so schwierig, dagegen anzukämpfen,
denn es ist nicht selten der Fall, dass eben diese Gefühle je nach Typ
fähig sind, den Verstand nahezu auszuschalten. Dadurch werden oft Tatsachen
verdreht und Unschuldige zum Sündenbock. Genau das geschieht hier. Ein
häufig beobachtetes Phänomen des Racheaktes ist, dass er durch die
Bestrafung bzw. Erniedrigung in diesem Fall des Sündenbocks, demjenigen
der ihn vollzieht nicht genug Genugtuung verschafft. Diese Genugtuung hält
zwar einen Moment an, aber dann ist der Rächende entweder enttäuscht
darüber, dass sich im Grunde nichts verändert hat, ausser, dass
der andere seine Strafe erhielt und er damit nicht die Befriedigung bekam,
die er sich von der Rache erhoffte, oder, und das ist bei P der Fall, das
Bedürfnis, andere zu bestrafen und zu erniedrigen erlischt nach dem Akt
nicht, sondern hält an. Damit verbunden ist sicherlich auch, dass sich
der Racheübende gegenüber dem, welcher der Rache zum Opfer fällt,
erhaben fühlt, weil er zum Zeitpunkt der Rache Macht über diesen
hat, nämlich die Macht sich an ihm zu rächen, und diesen Zustand
will der Racheübende beibehalten. Zugleich ist aber auch die Tatsache
bedeutend, dass der Rächer sich, wie es bei P der Fall ist, mal nicht
auf der Seite der Schwachen, also auf der Seite der Feiglinge befindet und
damit nicht auf der Seite der Ängstlichen, sondern auf derer der Starken
und Mächtigen. So fühlt sich P das erste Mal nicht ohnmächtig,
schwach und feige wie sonst, sondern richtig stolz, mächtig und stark.
17) Tatsächlich scheint dieses Gefühl der Macht und der Stärke,
dass P bei der Erniedrigung von Rolf verspürt hatte, so stark zu sein,
dass er seine Tat mit allen Mitteln verteidigt und sich zur zusätzlichen
Bestätigung sogar selber dafür lobt. Selbst Strafarbeit und Hausarrest
oder die Tatsache, dass seine unendliche' Liebe nicht mehr mit ihm spricht,
nimmt er dafür gern in Kauf. Die Art und Weise, wie er zu diesem Gefühl
kam, ist mehr als fragwürdig, und das geben ihm Familie, Schule und auch
Jennifer zu verstehen, in dem sie ihn, jeder auf seine Weise, strafen. Doch
P kennt bislang nur diese eine Art, nämlich durch Rache und Erniedrigung
anderer, ein solches Gefühl zu erhalten, und da dieses ihm so wertvoll
ist, nimmt er es samt den Umständen, wie es zustande kam, in Schutz.
Er versucht sein fehlerhaftes Verhalten zu legitimieren und sich damit das
Recht einzuräumen, Gleiches und Vergleichbares wie bei Rolf auch in Zukunft
tun zu dürfen.
Zur Feier des Tages, sei es wegen dem einwöchigen Jubiläum oder
wegen dem Ende des Hausarrests, gingen wir am Abend in die Ochsen Bar. Zu
unserem Entsetzen sahen wir dort ausgerechnet die Albaner, die vor ein paar
Monaten Michael verprügelt hatten. Auch der eine Schweizer war dabei.
Wenn ich mich nicht irre, ist er Realschüler.18) Michael wollte wieder
gehen. Ich hielt ihn zurück. Ich liess mir sicher nicht die Stimmung
von ein paar Ausländern verderben. Plötzlich ging ein kahlköpfiger
Schweizer zu ihrem Tisch hin und fragte sie, was sie in dieser Bar verloren
hätten. "Solches Gesindel wie ihr gehört nicht hierher",
fuhr er sie an. Es war klar, dass das nicht gut gehen konnte, so gingen die
Albaner auf den Fremden los. "Komm, wir helfen ihm", sagte ich zu
Michael, worauf er bloss erwiderte: "Spinnst du?". Ich ignorierte
ihn einfach, denn diesmal wollte ich etwas unternehmen. Die Zeiten, in denen
ich hilflos daneben stand und mir alles gefallen liess, sind nun vorüber.
Noch bevor wir sie richtig fertig machen konnten, wurden wir rausgeschmissen.
Michael war ziemlich wütend und ging ohne ein Wort zu sagen nach Hause.
So blieben nur der Fremde namens Dominik und ich übrig. Auch die Albaner
hatten sich verzogen. Erst als ich mich bei ihm für die Unterstützung
bedankte, sah ich, dass er Kampfstiefel trug. Er erklärte mir, dass er
sich das gewohnt sei. Wir unterhielten uns eine ganze Weile. Ich erkannte
schnell, dass wir einiges gemeinsam haben, vor allem, was die Einstellung
Ausländern gegenüber angeht. Ich war neugierig und wollte mehr wissen,
es war ja offensichtlich, dass er ein Skinhead ist. Als ich ihn danach fragte,
stand er auf, und sagte: "Los, schlag mich!". Ich glaubte, mich
verhört zu haben, aber ich verstand schon richtig. Ich sagte so was,
wie "lass den Scheiss". Aber er lies nicht locker. Also schlug ich
ihn in den Bauch. Das sei schon ganz gut gewesen, keuchte er, aber ich könne
es sicher noch besser. Ich begriff absolut nicht, was das sollte, fragte,
ob er verrückt sei, aber er bestand darauf, dass ich nochmals zu schlage.
Als ich nicht wollte, begann er mich Schlappschwanz, feiges Huhn und dergleichen
zu nennen. Ich dachte nur, was bildet sich dieses Arschloch eigentlich ein,
denkt er, bloss, weil er schon einige Schlägereien mehr hinter sich hat,
sei er so viel härter als ich? Ich schlug mit aller Kraft zu, mitten
ins Gesicht.19) Er fiel zu Boden. "Verdammt", schrie er, dann stand
er auf.
18) Das P in seinem Tagebuch erwähnt, dass der Schweizer, der mit den
Albanern in der Bar sitzt, Realschüler ist, zeigt, wie fixiert er darauf
ist, die Schwachstellen dieses Schweizers hervor zu heben, um damit die Tatsache
zu schlichten, dass ein Schweizer mit Albanern herum hängt. Der Vorgang
gleicht gedanklich einer Entmündigung: Der Schweizer weiss nicht, was
er tut, er ist dumm (Realschüler) und nicht willensstark, da er sich
von Ausländern einwickeln, ja sogar bekehren lässt (siehe Punkt
6) ).
19) Entscheidend ist nicht unbedingt, dass sich P nun plötzlich zum selbsternannten
Helden, der handelt, anstatt ängstlich daneben zu stehen, aufbrüstet,
sondern die Feststellung, dass er es erst tut, als er den Rückhalt des
Skinheads hat. Dieses Verhalten hat einiges zu tun mit einer bereits bekannten
Eigenschaft von P: Alles, was man tun muss, um P zu einer Sache zu bewegen,
ist, ihn einen Feigling oder dgl. zu nennen, was ja dann auch der Skinhead
tut. Nebst seinen unter Punkt12) erwähnten Ängsten ist P auch völlig
abhängig von den Eindrücken anderer bzw. davon, was diese anderen
von ihm halten und über ihn denken könnten. Dass es ihm in gewissen
Situationen an Rückgrad fehlt, scheint ihn weniger zu stören, als
wenn jemanden denkt, dass er feige ist. Ein Grund dafür, nebst schon
erwähnten Ängsten, könnte darin zusuchen sein, dass es vielleicht
in der Natur des Menschen liegt, dass er nicht fähig oder willens ist,
allein zu sein oder zumindest Angst vor der Einsamkeit hat. Deshalb versucht
P alles erdenkliche zu tun, um den Zustand des Alleinseins zu vermeiden. Diese
Angst könnte bei P auch deshalb so stark sein, weil es ihm eben an Selbstständigkeit
und Rückgrad fehlt und er deshalb besonders auf andere Menschen angewiesen
ist. Nur schon sich als Teil einer Gruppe sehen zu können, bewirkt das
man sich gemeinsam stärker, aber auch sicherer fühlt. Diese Eigenschaft
von P, von den Meinungen anderer, aber auch von ihrer stützenden Gegenwart
abhängig zu sein, ist gerade deshalb so gefährlich, weil sie nur
zu leicht ausgenutzt werden kann.
Er brauchte nicht lange, um sich zu erholen, dann fragte er mich: "Na, wie war das?" Ich antwortete, dass meine Hand weh täte. Er lachte und meinte, dass er sich in dem Moment, in dem er zuschlage, völlig frei fühle. Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, muss ich ihm Recht geben. Für diesen kurzen Moment und den Moment danach, war ich frei, frei von allen Sorgen und schlechten Gefühlen wie Angst und Selbstzweifel, frei vom Gewissen. Folgen auf das, was während der kurzen Zeitspanne des Schlages geschieht, spielen in diesem Moment keine Rolle. Ich fühlte mich in jenem Moment tatsächlich frei.20) "Komm am Samstag um acht wieder hierher, dann erfährst du mehr", sagte er, als er ging. Natürlich fragte ich ihn noch, was er davon hatte, dass ich ihm fast die Nase gebrochen hätte. "Man muss auch was einstecken können", sagte er und verschwand in der Dunkelheit.21)
Samstag, 25. August
Michael konnte es offenbar ganz und gar nicht wegstecken, dass ich ihm für heute Abend abgesagt hatte, obwohl wir ja sowieso nur ins Kino gegangen wären. Die längste Zeit hackt er auf mir rum, ich sei doch verrückt, mich mit solchen Leuten abzugeben. Dabei hatte ich von ihm noch am ehesten erwartet, dass er versteht, dass mich diese Szene irgendwie anspricht, ich wollte ihn sogar fragen, ob er auch kommen wolle. Aber ich hab mich wohl in ihm getäuscht. Toll, wenn man Freunde hat, die einen kein bisschen verstehen. Aber wahrscheinlich ist er einfach sauer, dass ich meine Pläne für den Samstag Abend spontan geändert habe. 22)
20) Das Zusammenspiel nahezu masochistischer und sadistischer Züge der
Untergebenen ist eine der wichtigsten Bedingungen, damit ein faschistisches
System von einem Führer aufrecht erhalten werden kann. Einerseits müssen
seine Untergeben nicht nur fähig sein, anderen Gewalt anzutun, sondern
sie sollten auch Gefallen daran finden, damit sie umso enthusiastischer gegen
die Feinde des Systems vorgehen können. Andererseits sollten sie ihm
aber möglichst mit dem selben Elan auch bedingungslos gehorchen und sich
seiner willkürlichen Befehlsgewalt unterwerfen. In erster Linie geht
es hierbei um Macht und um die Angst keine Macht zu haben.
Wie schon erwähnt fühlt sich P Autoritäten gegenüber ohnmächtig,
zugleich will er Macht ausüben können, um damit seine Ängste
zu kaschieren. Ängste sind sehr starke Emotionen, und ebenso stark ist
das Bedürfnis sie zu bekämpfen, wenn man das kann, oder aber sie
zu verdrängen, was P versucht, indem er dem besagten Gefühl von
Macht und Stärke hinterher jagt. Unter Punkt 10) habe ich erklärt,
dass P den Zugang zu diesem Gefühl nur findet, indem er sich an anderen
rächen oder sie erniedrigen kann. Für P heisst Macht demzufolge,
dass man die Macht hat, andern Gewalt anzutun, was er durch den Gedanken der
Rache rechtfertigt. Er muss diese Macht ausüben, um sich zu beweisen,
dass er Macht hat, was ihn schliesslich freut und befriedigt. Das wiederum
begründet seine sadistische Seite. Um diese Macht über andere haben
zu können, ist er aber stets auf wenigstens einen Menschen angewiesen,
der ihm Rückhalt gibt, da es ihm selbst an Rückgrad fehlt, was auch
schon erwähnt wurde. Von diesem mindestens einen Menschen ist P völlig
abhängig, denn ohne sich unter dessen Schutz zu wissen, brächte
P gar nichts zustande. Daher wird P mit Freuden alles tun, was nötig
ist, um es sich mit diesem Schutz und Rückhalt Spender nicht zu verderben
und er wird ihm aufs Wort gehorchen und ihn, wo er nur kann, in Schutz nehmen.
Im Moment ist dies noch sein Vater. Soviel zur masochistischen Seite von P.
Sie wird sich später am deutlichsten im Rahmen des Aufnahmetests in die
Rechte Union entfalten, wenn dann diese Vereinigung langsam an die Stelle
des Vaters tritt.
21 Dominik spricht noch eine ganz andere Seite des Masochismus oder, besser
gesagt, des masochistischen Denkens an. Er erwähnt eine Art Nutzen, den
er aus der Erduldung körperlicher und psychischer Qualen ziehen kann.
Mit "man muss auch was einstecken können" meint er, dass diese
Qualen einen stärker machen, in dem man lernt, sie zu ertragen. In diese
Richtung bewegt sich auch ein Gedanke, den Jim Morrison (Band-Leader der Doors)
sehr schön formuliert hat. Er sagte: "Man lebt am intensivsten in
Angesicht des Schmerzes". Dieser Gedanke kann so weit führen, dass
man beginnt gefallen am Erdulden von Schmerzen zu finden, weil einem erst
angesichts des Schmerzes, klar wird, wie gut es einem doch ansonsten geht.
Der Unterschied dieses Gedankens betreffend Masochismus zu jenem unter Punkt
20) ist, das jener sich auch oder gerade unbewusst abspielen kann, da dabei
gewisse Ängste verdrängt werden.
22) P fühlt sich von Michael nicht verstanden. Zugleich versucht er nicht
im geringsten, Michaels Position zu verstehen, eher gibt er sich damit zufrieden,
dass Michael nur wütend ist, weil er ihn versetzt und erspart es sich
damit, näher auf die Skinhead-Szene eingehen und sich dabei Michaels
Kritik anhören zu müssen. Umgekehrt macht Michaels eher aggressive
Haltung die Angelegenheit auch nicht besser. So passt P die Tatsachen einmal
mehr seinen Wünschen an und die dringend nötige Kommunikation versagt
ein weiteres Mal.
Ich war bereits um fünf vor acht vor der Ochsen Bar und wartete auf Dominik,
der dann pünktlich um acht kam. Er stellte mich einigen anderen Skinheads
vor, die er mitgebracht hatte. Während unserer Tour durch die Stadt,
von Bar zu Bar, erfuhr ich einiges über ihre Gruppe. Sie waren Mitglieder
einer faschistischen Vereinigung mit etwa hundertfünfzig Mitgliedern.
Über ihre Tätigkeiten erfuhr ich nur sehr wenig. Sie schwärmten
förmlich von ihrem Zusammenhalt, der Brüderlichkeit, die in der
Vereinigung, die sich die Rechte Union nennt, vorherrscht. Sie haben ihre
Lieder und ihre Parolen, die den Geist der Union wiederspiegeln: "Gemeinsam
sind wir unschlagbar" oder "Wir sind Brüder, als Brüder
leben wir, als Brüder kämpfen wir, als Brüder sterben wir".
Aber sie halten auch an Traditionen fest: "Einer für alle, alle
für einen!" Beigeistert hörte ich ihnen zu.23)
Vor allem über die Aufnahmebedingungen erfuhr ich so einiges. Sie erzählten,
dass diese ziemlich hart seien, aber dass es sich lohnen würde, dass
sie je nach Laune ihres Anführers, der den Begriff Mentor vorzieht, etwas
variieren. Der Prozess der Aufnahme dauere eine Weile, er bestünde aus
mehreren Tests. Gegen zwölf Uhr, die meisten von uns waren schon recht
betrunken, trafen wir auf eine Gruppe von Ausländern, keine Ahnung was
für welche, Jugoslawen oder so was. Dominik sagte: "Jetzt geht's
erst richtig los." Kaum hatte er diese Worte gesprochen, rannte er mit
Gebrüll auf die Ausländer los, und die Schlägerei begann.24)
Sie waren uns zahlenmässig völlig unterlegen. So war das ganze eine
ziemlich kurze Angelegenheit. Ich habe zwar einige Schrammen davongetragen,
aber wir haben sie fertig gemacht, und nur darauf kommt es an. Da ich mich
in der Rauferei scheinbar bewährt hätte, meinte Dominik, ich solle
am kommenden Samstag zu ihrem Hauptquartier kommen, den ersten Test hätte
ich ja gerade bestanden.
Montag, 27. August
Ich konnte es das ganze Wochenende kaum erwarten, Michael vom Samstag Abend zu erzählen. Doch ihn schien es kein bisschen zu interessieren. Ich erklärte ihm, dass ich darin eine Chance sähe, endlich selber was zu tun, etwas zu verändern, denn erst durch diese Vereinigung der Kräfte, durch die Union bestehe eine realistische Chance. Michael meinte nur: "Das sind Nazis!".25) Ich verstehe ihn nicht. Hatte nicht auch er gejammert und sich darüber beklagt, wie doch die Schweiz von diesem Gesocks überrannt wird? War es nicht er, der von diesen Scheiss-Albanern verprügelt wurde?
23) Die Angst vor Einsamkeit habe ich bereits angesprochen (siehe 19). Dieser
Angst wirkt die Union entgegen. Die kleine Gruppe, mit der P unterwegs ist,
repräsentiert offenbar, was die Parolen versprechen. Geselligkeit, Zusammenhalt
und Brüderlichkeit, jeder steht für den andern ein. Das ist genau
das, was jemand braucht, der sich davor fürchtet alleine zu sein und
der stets auf den Rückhalt anderer angewiesen ist. Die Union schafft
auf diese Weise, also durch das, was die Parolen versprechen, ein starkes
Band zwischen ihren Mitgliedern, da sie ihre tiefverwurzelten Ängste
vor der Einsamkeit berührt und ihnen zugleich die Sicherheit und Stärke
durch die Einheit bietet, die sie sich wünschen. Da von Brüderlichkeit
die Rede ist, erscheint der Zusammenhalt in der Union ebenso stark, wie der
von Blutsverwandten und ebenso verpflichtend. Mit "als Brüder sterben
wir" wird das Band schliesslich absolut, zerstörbar nur durch den
Tod.
24) Die Lieder und Parolen haben nebst ihrem Inhalt noch einen weiteren Effekt.
Zum einen werden die Werte und Ideale der Union den Mitgliedern durch ständiges
Wiederholen eingetrichtert, zum andern fördern sie die Geselligkeit und
sorgen für eine euphorische Stimmung, die den Skinheads, vermischt mit
ausreichend Alkohol, leicht das Gefühl gibt, sie seinen als Einheit nun
nahezu unverwundbar und nichts könne sie aufhalten. Alkohol hat, nebst
gewissen Drogen, die Wirkung, das primitiven Gefühlen, die sonst durch
den Verstand zurückgehalten werden, freien Lauf gelassen wird. Ganz in
diesem Sinne stürmt Dominik mit lautem Gebrüll auf die Ausländer
los.
25) Michael ist P in mancher Hinsicht ähnlich. Auch er scheint anfällig
auf Klischees zu sein, und auch er ist nicht wirklich in der Lage, auf den
Konflikt zwischen ihm und seinem Freund einzugehen. Dennoch lässt er
sich nicht von den Skinheads mitreissen und das obwohl er es ja war, der von
den Ausländern verprügelt wurde. Das muss aber noch lange nicht
heissen, dass moralische Gründe dahinterstecken, unter Umständen
reicht der Ruf der Skinheads für ihn vollkommen aus als Grund, um sich
nicht mit ihnen abzugeben. Dies wäre dann fast ebenso bedenklich, wie
die Entschlossenheit von P sich ihnen anzuschliessen, da es dann offenbar
auch bei Michael an einer gewissen Objektivität fehlt.
Montag, 3. September
Vorgestern war der grosse Tag. Ich habe nun bereits den zweiten Test bestanden
und bin zur Probe aufgenommen. Wie lange die Probezeit dauert, weiss ich noch
nicht. Der Test war wirklich hart, wie sie es am Samstag davor gesagt hatten.
Ich bekam den Auftrag, vor dem Hauptquartier, einem alten, etwas heruntergekommenen
Haus, zu stehen und alle Befehle zu befolgen, die mir gestellt würden,
egal, von wem sie stammten oder wie absurd sie auch sein mochten, und zwar
solange, bis mich der Gruppenführer, der mir auch den Auftrag erteilte,
erlösen würde. Einige waren ziemlich harmlos: Ich solle die Arme
ausstrecken, ich solle hüpfen, und andere waren etwas schlimmer: Ich
solle den Wurm essen, der gerade vorbei kroch, ein anderer wollte auf mir
herumreiten. Doch dass schlimmste war die Nacht. Die ganze Nacht wach zu bleiben,
stehen zu bleiben, immer am selben Ort, das war die wirkliche Herausforderung.
Und es gab Momente, in denen ich mich wirklich fragte, was das sollte, und
ich war nahe dran aufzugeben. Doch nur schon dieser Gedanke: aufgeben, ich
wollte nicht aufgeben. Ich bin nicht der Typ, der aufgibt. Wie Dominik sagte,
man muss auch einstecken können. Schliesslich können sie für
ihre Sache nicht jeden nehmen. Es braucht Leute, die zäh sind, die wirklich
was einstecken können, um die Welt zu verbessern. Würde Clint Eastwood
aufgeben? Niemals. Helden geben nicht auf.26)
Und so hielt ich durch, zwei Nächte lang, bis ich heute morgen erlöst
wurde und weitere Instruktionen vom Gruppenführer erhielt. Er beteuerte,
dass ich nun zur Probe aufgenommen sei. Bis zur entgültigen Aufnahme
habe ich nun täglich vier Stunden lang, am Wochenende den ganzen Tag
im Hauptquartier zu sein, um dort dann seiner Gruppe zu dienen, in dem ich
mich um ihr Wohlergehen kümmere, während sie sich im Hauptquartier
aufhalten. Ich kam dann schliesslich nur gerade zwei Lektionen zu spät
in den Schulunterricht.
Nun gehe ich wieder zum Hauptquartier, um meiner Pflicht nachzukommen. Ich
bin gespannt, wie das Haus von innen aussieht.
Donnerstag, 20.September
In den letzten Wochen hat sich Michael immer mehr von mir entfernt. Ich kann
seine Haltung wirklich nicht verstehen. Ich meine, es ist klar, dass wir uns
in letzter Zeit kaum gesehen haben. Eigentlich sehen wir uns nur noch in der
Schule. Aber trotzdem, ich habe ihm erklärt, dass meine Bemühungen
für die Aufnahme in die Union nun mal sehr viel Zeit in Anspruch nehmen.
Er sagt zwar schon so was, wie "schon gut" und ähnliches. Doch
ich merke, dass es nicht das ist, was er denkt, vor allem, wenn er noch Sätze
beifügt, wie "aber erwarte nicht von mir, dass ich es verstehe".
Wie schon Herr Müller sagte, man muss Opfer bringen, wenn man etwas verändern
will. Ja, Herr Müller wäre stolz auf mich.
Ich hoffe, dass die Probezeit bald vorüber ist. Sie dauert nun doch schon
bald drei Wochen an. Vielleicht wird es nachher auch mit Michael wieder besser,
wenn ich wieder etwas mehr Zeit habe, um mich ihm zu widmen. Ausserdem ist
es recht mühsam, dauernd die Zimmer der Gruppe zu reinigen, für
sie zu kochen, die Stiefel zu putzen, für sie einzukaufen und was sonst
noch gerade anfällt.27)
26) Nun geschieht, was ich bereits unter Punkt 20) vorweggenommen habe. P
lässt die Tortur des Aufnahmetest über sich ergehen und ist sogar
stolz darauf. Er sieht sich nun mehr als Held, der für die gute Sache
auch bereit ist etwas einzustecken.
27) Spätestens jetzt erkennt man, dass noch mehr hinter dem Test steckt,
als die Entfaltung oder, je nach Auslegung, die Aufzwingung des Masochismus
als Grundlage für die bedingungslose Untergebenheit. Der zweite Teil
des Tests ist enorm Zeitaufwendig, und das ist alles andere, als ein Laune
des Führers. Dieser weiss nämlich ganz genau, das P dadurch weniger
Zeit für seine Freunde hat. Auf diese Weise kommt es zu einer Entfremdung
zwischen P und seiner gewohnten Umgebung. Das P allmählich seine Freunde
verliert, macht ihn umso labiler, da er zusehen muss, wie seine alte Welt
langsam aus den Fugen gerät. Gibt die Union ihm dann später im richtigen
Moment den Halt, den er braucht, die Freunde sind ja dann nicht mehr da, unterliegt
er völlig dem Einfluss der Union und damit des Führers.
Sonntag, 7. Oktober
Als ich gestern gerade den Müll im Hauptquartier raustrug, kam einer
der Scharführer zu mir. Ich ahnte schon, dass dies nur das Ende meiner
Probezeit bedeuten kann. Und ich hatte Recht. Ich solle nun am Abend mit meiner
Gruppe losziehen und mich der letzen Prüfung unterziehen. Endlich war
es soweit. Wir zogen am Abend durch die Bars der Stadt. In der Ochsen Bar,
wo ich Dominik zum ersten Mal begegnet war, erhielt ich dann die Instruktion
für die letzte Herausforderung. Der Gruppenführer erklärte
mir, was ich zu tun hatte: "Siehst du den Neger an der Bar?" Ich
bejahte. "Du gehst jetzt zu ihm rüber", fuhr er fort, "und
provozierst ihn, dann fängst du eine Schlägerei an." "Alles
klar", sagte ich, worauf er erwiderte: "Und du wirst verlieren."
Ich verstand absolut nicht, was sie damit bezweckten, aber ich tat es. Die
anderen verliessen die Bar. Diesmal hatte der Barbesitzer die Polizei gerufen.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie den Neger mitnahmen, während
sie mich zum Krankenwagen brachten.
Als ich heute morgen im Krankenhaus aufwachte, waren meine Mutter und Willy
schon da. Willy natürlich offiziell als Polizist, er wollte wissen, was
genau vorgefallen ist. Und ich sagte es ihm. Ich sagte ihm, was wohl meine
Mutter und vielleicht auch Vater hören wollten, dass er mich provoziert
hätte und dass ich das nicht habe auf mir sitzen lassen können.
Wie es nicht anders zu erwarten war, musste Willy natürlich noch erwähnen,
dass der Neger eine etwas andere Version hatte. "Denkst du so einer würde
zugeben, dass er es war, der mich provoziert hat", sagte ich und Willy
schien sich damit zufrieden zu geben.
Am Nachmittag kam Dominik vorbei. Er gratulierte mir, ich hätte die Prüfung
bestanden und ich solle nächsten Sonntag zum Hauptquartier kommen, um
vom Mentor persönlich als Mitglied der Union eingeweiht zu werden.28)
Montag, 8. Oktober
Noch sechs Tage bis zur Einweihung, ich kann's kaum erwarten, den Mentor persönlich kennen zu lernen. Ich wollte auch Michael davon erzählen, doch der zeigte herzlich wenig Interesse. Was soll's, ich bin stolz darauf, Mitglied einer Vereinigung zu sein, die etwas zur Säuberung der Welt beiträgt.
28) Der Sinn des letzten Testes steckt im Bewies der unbedingten Loyalität,
denn nur wer an den Führer, seine propagierten Werte und Ziele glaubt,
würde das über sich ergehen lassen und danach die Polizei und die
Familie, die in diesem Fall sogar zusammenfallen, belügen. Es ist eine
letzte Vergewisserung, dass P es wirklich ernst meint und dass er voll und
ganz hinter dem Führer und der Union steht. Hinzu kommt, dass P keine
Reue zeigt, wie denn auch, wenn ihm scheinbar selbst der böse'
Bruder die Lüge abkauft und die Union nebenbei noch gratuliert.
Montag, 15. Oktober
Gestern war der grosse Tag. Was für ein Erlebnis. Ich erhielt meine persönliche Uniform, samt den Kampfstiefeln. Dann der grosse Moment: Die Taufe. Ich sprach den Ehrenkodex, indem ich die Worte des Mentors wiederholte:29)
Ich schwöre,...
...der Union und meinem Mentor mit ganzer Kraft zu dienen,...
...stets meinen Mut und meine Stärke im Dienste der Union unter Beweis
zu stellen,...
...der Union und meinen Kameraden stets treu und loyal zur Seite zu stehen...
...und unser geliebtes Land vor dem Einfluss unsrer Feinde zu schützten.
Dann wurde mir der Kopf kahl geschoren, der Mentor überschüttete
mich mit Bier und überreichte mir das Reglement der Union. Darin stehen
alle Regeln der Union und auch der Kodex. Eine Regel legte mir der Mentor
besonders nahe:
"Es ist den Mitgliedern untersagt, über die Union und deren Tätigkeiten
zu sprechen".
Er erklärte mir, dass, wie ich sicher wisse, die Aussenwelt, unsere Beweggründe
nicht verstehen kann. Das Volk wüsste oft nicht zu schätzen, was
wir für unser Land tun. Aber damit nicht genug, es würde sogar versuchen,
uns an unseren Tätigkeiten zu hindern. Ich verstehe das vollkommen, und
das sagte ich ihm auch. Es ist dasselbe wie im Western: Der unbekannte, namenlose
Held befreit das verängstigte, verweichlichte Volk vom Gesindel und verschwindet
dann im Sonnenuntergang. Der Mentor fand den Vergleich sehr amüsant und
meinte, ich hätte die richtige Einstellung. Anschliessend haben wir die
ganze Nacht durch gefeiert.
29) Es war sehr geschickt vom Führer, den Moment des Aufnahmerituals
abzuwarten, bis er sich persönlich dem neunen Mitglied widmet, denn seit
Wochen arbeitet P auf diesen Tag hin, um endlich Teil der Union zu werden
und freut sich entsprechend darauf. Da der Führer ihn nun persönlich
einweiht, im quasi den Schlüssel in die neue, langersehnte Welt überreicht,
fällt all die Freude des erwartungsvollen P auf seinen Mentor, seinen
Führer. Nun darf P endlich mit den anderen losziehen. Das er sich darüber
freut ist ganz verständlich, denn erst das macht ihn nun wirklich zu
einem (r)echten Skinhead, erst dadurch unterscheidet er sich nicht mehr von
den andern. Gleichzeitig darf er nun endlich mit den andern die gestaute Aggression
an den Ausländern rauslassen und der Führer ist es, der ihn in dieser
neuen Welt empfängt, und ihn damit ehrt.
Dienstag, 23. Oktober
Das erste Mal seit Wochen habe ich wieder mit Jenny gesprochen. Sie erkundigte
sich was, ich denn so getrieben hätte in dieser Zeit. Es war mir untersagt,
genauer auf ihre Frage einzugehen, so vertröstete ich sie damit, dass
ich einem Verein beigetreten sei, der sehr viel Zeit in Anspruch nehme. Natürlich
wollte sie wissen, was für ein Verein das sei. "So was wie die Pfandfinder",
antwortete ich, "einfach etwas Neues." Damit gab sie sich aber nicht
zufrieden, denn sie hatte bereits gehört, dass ich schon eine ganze Weile
mit ein paar Skins rumhängte, ausserdem sei ihr meine neue Frisur nicht
entgangen. Es ginge sie nichts an, entgegnete ich ihr und liess sie stehen,
doch sie lief mir hinter her mit den Worten: "Was ist denn los mit dir,
seit du die Sache mit Rolf abgezogen hast, bist du nicht wieder zu erkennen."
Als hätte sie mich je gekannt. Und dann ihre Frage, ob ich jetzt ein
Rassist sei. Was weiss sie schon davon. Sie musste nicht zu sehen, wie ein
paar Schweine ihren Freund vor ihren Augen verprügelten. Schluss damit!
Ich mag echt keinen weiteren Gedanken mehr daran verschwenden. Es bringt nichts,
sich mit solchen Ignoranten auseinander zu setzen.30)
So halte ich nun auch die erfreulichen Ereignisse des heutigen Tages fest.
Am Abend haben wir ein paar Ausländer im Jugendtreff aufgemischt. Die
werden noch eine Weile mit Aufräumen beschäftigt sein. Gegen zehn
Uhr trafen wir auf ein paar Albaner. Wir hatten zwar schon einiges intus,
aber ein Problem stellten sie für uns trotzdem nicht dar. Wir fanden
eine Menge Hasch, Pillen und etwas Kokain bei ihnen. Den Stoff nahm Reto,
als unser Gruppenführer, gleich an sich.
Donnerstag, 15. November
Ich sass heute eine Weile auf der Veranda des Hauptquartiers. Und dachte etwas über die Sache mit Michael nach. Ich hoffte eigentlich, dass alles wieder wie früher würde, wenn ich erst mal in der Union aufgenommen wäre. Nun ist es soweit, und dennoch hat sich nichts geändert. Wir sprechen kaum noch miteinander. Als ich sass und grübelte, kam Eugen, einer der Scharführer raus. Er bemerkte sofort, dass ich mich nicht besonders wohl fühlte. Er setzte sich neben mich und fragte, was mich bedrücke. So erzählte ich es ihm.
30) Nun hat P schon einiges mitmachen müssen, um endlich aufgenommen
zu werden. Vieles davon war erniedrigend und qualvoll und, sähe P nicht
einen besonderen Sinn dahinter, sogar lächerlich. Was aber, wenn dieser
Sinn nun nichts anderes, als eine Illusion wäre und er das alles um sonst
über sich hätte ergehen lassen? Dann müsste sich P eingestehen,
dass er eher einer Witzfigur, als einem Helden gleicht. In Anbetracht dessen
ist es völlig klar, dass er so empfindlich auf Jennifers Kritik reagiert.
Er sieht sich selber schon als Teil der Union, und dies umso mehr, je mehr
er selber im Namen der Union agiert. Kritik an der Union empfindet er dann
auch als Kritik an sich selbst. Sich mit der Kritik auseinander zusetzen,
beinhaltet auch das Risiko, das man erkennt, dass diese sogar berechtigt ist.
Wenn P wirklich zu dieser Erkenntnis gelangt, bringt dies die Gefahr mit sich,
dass er früher oder später seinen verdrängten Ängsten
wieder begegnet, spätestens, wenn er sich fragt, wie er zur genannten
Witzfigur wurde. Unselbständig, wie er ist, steht er seinen Ängsten
dann hilflos gegenüber und wird sich ihnen wohl oder übel stellen
müssen, was er ja um jeden Preis vermeiden will. So verteidigt P natürlich
die Union umso energischer, je mehr er selber für sie oder unter ihr
getan hat, und desto mehr unterliegt er damit auch der Kontrolle der Union
bzw. der Kontrolle des Führers.
Er sah mich einen Moment an und sprach: "So ist das nun mal im Leben,
Freunde kommen und gehen. Aber nicht bei uns. Wir sind Brüder, eine Familie.
Hier wird dich niemand im Stich lassen." Ich wusste seine Worte wirklich
zu schätzen, aber, und das merkte er auch, es änderte nichts an
der verzwickten Situation. So er hinzu: "Hey, vielleicht überdenkt
er ja seine Meinung nochmals, und dann kannst du ihn ja her bringen, dann
hast du alle Freunde beisammen. Wenn ihm das nicht gefällt, dann kann
ihm nicht besonders viel an dir liegen, dann ist er einfach einer von den
vielen, die zu feige sind, sich der Herausforderung zu stellen. Solche Freunde
brauchst du nicht. Und jetzt lass uns ein paar Jugos aufmischen." In
dem Moment wusste ich, dass ich am richtigen Ort bin.31)
Donnerstag, 6. Dezember
Ich habe Michael endgültig die Freundschaft gekündigt. Ich habe wirklich versucht, mit ihm zu reden, ihn von der Sache zu überzeugen 32), ich bot ihm sogar an, er solle den Aufnahmetest ablegen und beteuerte, dass wir jemanden wie ihn immer gebrauchen könnten. Seine Reaktion war enttäuschend. Er wolle nichts mit uns Nazischweinen zu tun haben, meinte er. Wütend liess ich ihn stehen und machte mich auf den Heimweg.
31) P erhält von der Union das, was seine Familie versäumte, ihm
zu geben: das Gefühl der Wärme und Fürsorge und das Gefühl,
verstanden zu werden. Dabei sollte man sich jedoch auch vor Augen halten,
dass die Union den Eltern gegenüber einen entscheidenden Vorteil hat.
Oft stehen Gefühle im krassen Gegensatz zu gesellschaftlichen Normen
und Wertvorstellungen und ebenso zu Pflichten und Gesetzen. Das Kind lebt
nach Gefühl und kennt diese Werte und Normen noch nicht. Deshalb müssen
die Eltern ihrem Kind beibringen, dass es manchmal seine Gefühle zurückstellen
muss, um seinen Pflichten und den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu
werden. So kommt es dann auch nicht selten vor, dass sie dem Kind widersprechen
müssen, was es dann oft nicht versteht oder verstehen will und sich deshalb
auch oft nicht verstanden fühlt. Die Union setzt sich dagegen oft über
gesellschaftliche Normen und ebenso über Gesetze hinweg, wie sich vor
allem in späteren Einträgen noch zeigen wird. Deshalb kommen diese
zurückgestellten, meist stark aggressiven Gefühle der Union wie
gerufen. Die Union lässt diese Gefühle zu und bietet ihren Mitgliedern
sogar ein Ventil für ihre Enttäuschung über die Verbote, ihre
Wut und sogar ihren Hass gegen die Verbotgeber, denn ungefähr das sind
diese Gefühle. Als Ventil dienen ihnen die Gegner der Union. Gleichzeitig
zeigt die Union ihren Mitgliedern damit, dass sie verstanden werden und dass
die Union deshalb zulässt, was Eltern, Lehrer und Gesellschaft verbieten.
Das familiäre Flair, das die Union P vermittelt, blendet ihn dermassen,
dass er nicht bemerkt, dass sein Konflikt mit Michael ganz im Sinne der Union
ist (siehe Punkt27) ) . In diesem Sinne geht auch Eugen sehr geschickt vor.
Ihm ist offenbar klar, dass P am liebsten seine alten Freunde mit den neuen
vereint sähe, also macht er ihm den Vorschlag, Michael zu überreden,
sich ebenfalls der Union anzuschliessen, wohl ahnend, dass dieser sich kaum
darauf einlassen wird. Damit vermittelt Eugen P das Gefühl, dass er verstanden
wird. Dann hebt er P noch rasch in ein besseres Licht, in dem er Michael erniedrigt
und P beteuert, dass er solche Freunde nicht braucht, damit P sich überlegen
fühlen kann. Und damit es auch ja bei diesen Gefühlen der Vertrautheit
zur Union und der Überlegenheit gegenüber Michael bleibt, gehen
sie sich wieder prügeln, noch bevor P die ganze Sache nochmals in aller
Ruhe überdenken kann. Natürlich ist auch nicht auszuschliessen,
das Eugen P völlig unbeabsichtigt auf diese Weise beeinflusst und nur
weiter gibt, was ihm selber einmal eingetrichtert wurde, ohne, dass er sich
dessen wirklich bewusst wäre. So sass Eugen vielleicht selber schon an
dieser Stelle und nahm ebenso dieselben oder ähnliche Worte eines Scharführers
dankend entgegen.
32) Was dieses reden' für P bedeutet wird hier überdeutlich.
Für ihn heisst reden überzeugen.
Völlig unerwartet rannte mir dann Jennifer nach, um mich angeblich wieder
zu besänftigen. Sie versuchte mich an die Freundschaft mit Michael zu
erinnern, wie sie früher war, ausgerechnet sie, und da wurde mir alles
klar, auch wenn sie es bestritt. Für wie dämlich halten die mich.
Dachten sie wirklich, ich würde nichts merken. Das sind Freunde, wie
sie ihm Buche stehen. Kaum macht Jennifer mit mir Schluss, schmeisst sich
mein bester Freund auf sie, und damit ich auch ja nichts merke, hacken sie
auf mir rum, weil ich endlich richtige Freunde gefunden habe.33)
Und als ob das nicht Demütigung genug wäre, leugnen sie es auch
noch. Reto hatte Recht. Michael ist ein feiges Arschloch, das noch nicht mal
den Mut aufbringt, mir zu sagen, dass er heimlich meiner Ex-Freundin nachsteigt.
Montag, 17. Dezember
Was heute geschehen ist, kann ich immer noch nicht fassen. Ich kam etwa um
halb sechs nach Hause, und wie so oft hat sich wieder mal die ganze Familie
versammelt, um mich zur Inquisition zu empfangen. Doch etwas war heute anders
als sonst, es war schlimmer. Willy hatte von einer unserer nächtlichen
Säuberungstouren, wie es Reto zu nennen pflegte, erfahren und als die
alte Petze, die er ist, musste er natürlich Vater davon erzählen.
Und so stand ich nun da, kaum den Raum betreten, schon verurteilt. Vater sah
mich an, schweigend, und Mutter fragte mich, ob ich ein Nazi sei. "Ein
Skinhead", sagte ich. Dann erzählte sie, dass Willy mich verraten
habe, der selbstverständlich auch noch zu Wort kommen musste: "Was
hast du dir nur dabei gedacht?" Ich zeigte ihm den Mittelfinger und sagte,
dass es ihn einen Scheissdreck anginge. "Schweig!" rief mein Vater,
dann sah er Mutter an, die mich aufs Zimmer schickte und mir sagte, ich hätte
vorläufig Hausarrest, bis man wieder vernünftig mit mir reden könne.
Ich war schon im Begriff, mich umzudrehen, da fragte ich mich plötzlich:
"Hey, was tu ich da überhaupt, wie lange will ich mir das eigentlich
noch gefallen lassen." Und dann tat ich es. Ich wendete mich Vater zu
und sprach: "Ich brauche dich nicht, ich habe eine Familie, die zu mir
steht und die für mich sorgt, und du gehörst nicht mehr dazu".
Er stand auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie mich an, was mir
eigentlich einfalle. Es liess mich kalt.
Ich nahm meine Sachen und verliess dass Haus endgültig. Ich wusste zwar
nicht, wohin ich gehen sollte, aber ich war sicher, dass mir die Union zur
Seite stehen würde. Und ich hatte Recht: Ich fand bei Dominik Unterschlupf.34)
33) P hat das zwanghafte Bedürfnis, immer jemandem die Schuld in die
Schuhe schieben zu können, möglicherweise, um sich selber von der
Schuld zu befreien, denn wenn jemand anderes schuldig ist, so denkt er wohl,
dann kann er ja nicht daran schuld sein. Indem er also andere beschuldigt,
beteuert und bekräftigt er seine eigene Unschuld. Wenn es ihm dann noch
gelingt, sich selbst als Opfer darzustellen, ist er fein raus. So entsteht
nun seine etwas paranoide Auslegung der Tatsachen: Er kann nicht schuld sein,
dass die Freundschaft mit Michael in die Brüche geht. Die Union kann
auch nicht schuld sein, da er ja Teil der Union ist und sie daher in Schutz
nimmt. Also sind Jennifer und Michael schuld. Aber wieso? Klar: Sie haben
ein Verhältnis. Damit haben sie ihn verraten. Und auf der Union hacken
sie also nicht herum, weil sie schlecht ist, sondern weil sie von ihrem Techtelmechtel
ablenken wollen.
34) Die Situation der Familie ist bereits bekannt. Ebenso kam schon eine ähnliche
Situation (siehe 12) ) schon vor. Doch diesmal wehrt sich P gegen die Autorität
des Vater. Dies zeigt wie wenig selbstständig P ist und wie sehr er auf
andere angewiesen ist, denn erst jetzt, da die Union hinter ihm steht und
er weiss, dass er jeder Zeit bei ihr Zuflucht findet, bringt er den Mut, auf
seinem Vater die Meinung zu sagen (siehe auch 19) ).
Montag, 24. Dezember
Diese verdammten Schweine. Für das, was sie heute Abend getan haben,
werden sie bezahlen. Wir waren heute etwas früher unterwegs, weil wir
heute Nacht noch gemeinsam feiern wollten. Wir waren schon auf dem Heimweg,
als sie aus dem Hinterhalt auf uns losstürmten. Diese verdammten Moslems.
Nichts ist denen heilig, noch nicht mal an Weihnachten ruhen sie, sondern
verpesten unsere Strassen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie das
wirklich getan haben. Ich habe immer noch die Bilder vor Augen, wie dieses
Schwein sein Messer zieht und auf ihn einsticht. Er war unser Scharführer,
verdammt noch mal, und dieses Arsch hat ihn einfach abgestochen.
Reto wurde an seiner Stelle zum Scharführer ernannt. Damit wurde Dominik
zu unserem Gruppenführer. Danach wendete sich uns der Mentor mit einer
ergreifenden Rede zu:
"Was heute geschehen ist, hat uns alle tief berührt. Mike war ein
herzensguter Mensch. Er glaubte an das, was er tat, und starb für seinen
Glauben. Damit hat er all unseren Respekt und unsere tiefste Bewunderung verdient.
Ich versichere euch, dass ich alles tue, was nötig ist, um die Verantwortlichen
zur Rechenschaft zu ziehen. Es liegt nun an uns und unseren künftigen
Taten, ob sein Tod umsonst war oder nicht. Für uns alle, beginnt nun
eine harte Zeit. Es hängt von jedem Einzelnen und seinem persönlichen,
disziplinierten Einsatz ab, ob und wie wir diese Zeit überstehen. Mehr
als zuvor ist es wichtig, dass wir auf die gegenseitige Loyalität zählen
können. Wir dürfen keinen Moment ruhen, wir müssen ständig
auf der Hut sein. Die Zeiten der Gnade und des Mitgefühls sind nun vorbei,
denn ab heute herrscht Krieg in unseren Strassen, und wir werden nicht eher
ruhen, bis dass der letzte von diesen elenden Hurenböcken dieses einst
so schöne und freie Land verlassen und in seine eigene Kloake zurückgekehrt
ist." 35)
35) Der Führer schlachtet den Tod des Scharführers zu seinen Zwecken
aufs Übelste aus. Dabei nutzt er die Ängste seiner Untergebenen
vor dem Tod, denn diese sind oft mit der Suche nach einem Sinn verbunden,
und dieser solle nun idealerweise ihr gemeinsamer Kampf gegen die Ausländer
sein. Das nehmen die Skinheads natürlich dankend an, denn abgesehen davon,
dass dadurch ihr Ausländerhass angesprochen wird, werden sie kaum akzeptieren
wollen, dass Mikes Tod völlig umsonst, also sinnlos war. "Es liegt
nun an uns, [...] ob sein Tod umsonst war", dieser Satz verpflichtet,
ganz im Sinne der Brüderlichkeit und der Loyalität, für dieselbe
Sache, ebenso entschlossen zu kämpfen wie Mike, um seinem Tod einen Sinn
geben zu können. So wird Mike schliesslich zum Massstab für den
idealen Skinhead und damit zum Vorbild. Wie er sollten auch die anderen bereit
sein, ihr Leben für die Bekämpfung der Ausländer hin zu geben.
Die gespannte Atmosphäre nach Mikes Tod gibt dem Führer die Chance,
einen Schritt weiter zugehen und den Begriff der Bekämpfung neu zu definieren.
Hiess Bekämpfen zuvor noch, Ausländer einfach zu verprügeln,
so heisst es jetzt, sie zu vertreiben.
3. Teil - Aufstieg und Fall
Mittwoch, 16. Januar
Zweieinhalb Kilo Heroin haben wir heute erbeutet, das wie immer Dominik in
Beschlag nahm. Das weckte allmählich mein Interesse. Dominik konnte aber
auch nicht mehr darüber sagen, als dass er den Stoff an Reto weiterreiche.
Seit dem Tod unseres alten Scharführers hat sich einiges verändert.
Als ich in die Union aufgenommen worden war, kamen mir unsere nächtlichen
Kreuzzüge wie ein Spiel vor. Wir hatten unsere Regeln, die sich darauf
beschränkten zu schweigen, den Rekord im Biersaufen zu halten und nie
einen Kampf zu verlieren, ausser es wurde von uns verlangt. Nun sind aus den
Regeln Gesetze geworden, und aus dem Spiel wurde ernst. Es ist nicht so, dass
wir weniger Spass hätten, aber nach dem Tod eines unserer Kameraden,
wurde uns klar, dass dies jedem von uns passieren kann, und es wurde uns klar,
das die Lage wirklich ernst ist und wir mehr den je zum Handeln gezwungen
sind. Hinzu kommt, dass wir zum Schutz Waffen erhalten haben.36) Gerade im
Moment sind die meisten von uns ziemlich angespannt. Heute gab es wieder ein
schönes Beispiel dafür. Dominik befahl Marco draussen zu warten,
als wir in eine Bar wollten, um Nachschub zu holen. Marco weigerte sich, worauf
Dominik ihn wütend zu Boden schlug. Ich weiss nicht, was sich Marco dabei
gedacht hatte. Das letzte, was Dominik im Moment gebrauchen kann, sind Kameraden,
die sich weigern, seinen Anordnungen nachzukommen. Wo kämen wir hin,
wenn jeder tun würde, was er wollte. Dass wir bereit sind, den direkten
Befehlen unserer Gruppen-, Schar- und Oberscharführern Folge zu leisten,
ist eine unserer Stärken. Dieser bedingungslose Gehorsam ist, der uns
von den Politikern unterscheidet, die, anstatt einer Regierung zu gehorchen,
Stunden lang diskutieren und schlussendlich doch nichts tun. Befehle zu hinterfragen,
ist der Todesstoss für jede Chance, etwas zu bewegen. Aber es gibt einfach
Leute, die das immer noch nicht kapieren. Gerade in der jetzigen Zeit können
wir uns das nicht leisten. Marco hat wirklich Glück, dass Dominik so
grossherzig ist. Ich hätte mir eine Strafe für ihn ausgedacht, bei
der ihm Hören und Sehen vergangen wäre.37)
36) P erkennt zwar den Ernst der Lage, die Konsequenz, die er daraus zieht,
ist dagegen fatal. Wie schon erwähnt, steht P umso überzeugter hinter
der Union, je mehr er selber für die Union getan hat. Deshalb versucht
er nicht, eine friedliche Lösung zu suchen, die schliesslich auch sein
Leben schützen würde, sondern er übernimmt kritiklos, was ihm
und seinen Kameraden vom Führer eingetrichtert wurde, nicht zuletzt im
Gedenken an Mike. So denkt auch P, dass die Union nur umso radikaler und sogar
mit Waffen gegen die Ausländer vorgehen muss.
37) Die Union ist eine Diktatur in kleinerem Rahmen. Tatsächlich ist
eine Diktatur wesentlich flexibler als eine Demokratie und kann wesentlich
schneller agieren. Die Kritik an den ewig diskutierenden Politikern einer
Demokratie, die ja doch nichts tun, ist stets ein beliebtes Stammtischthema,
und sie ist typisch für rechtsextreme Kreise. Sieht man davon ab, dass
die Entscheidungen einer Demokratie wesentlich durchdachter und daher mit
grösster Wahrscheinlichkeit mit wenigeren Fehlern und deren Folgen behaftet,
folglich sicherer sind, so ist der entscheidende Nachteil der Diktatur, dass
sie von den Machthabenden missbraucht werden kann. Dies scheint P aber nicht
zu interessieren, da er ja scheinbar vollstes Vertrauen in seinen Führer
hat. An dieser Stelle möchte ich einen weiteren Gedanken anführen.
Wie ich bereits erläutert habe, ist P völlig unselbstständig.
Selbstständigkeit ist aber eine wesentliche Voraussetzung, um eine freie
und eigenständige Entscheidung treffen und eine eigene Meinung haben
zu können. Die Demokratie hat an den einzelnen den Anspruch, dass er
fähig ist, aufgrund seiner Meinung eine Entscheidung zu treffen. Da P
die Voraussetzung dafür fehlt, empfindet er diesen Anspruch der Demokratie
als schwere Last. Deshalb sagt ihm die Diktatur eher zu, denn sie nimmt ihm
jede Entscheidung ab und befreit ihn damit von seiner Last. Eine Meinung braucht
er gar nicht erst zu haben. Dazu kommt wieder einmal mehr, dass P selber Teil
der Union, also der Diktatur ist und sie deshalb in Schutz nimmt, selbst wenn
er eigene Leute bestrafen und damit die brüderliche, gesellschaftliche
Harmonie zerstören muss.
Sonntag, 12. Oktober
Reto hat heute bekannt gegeben, dass er aufgrund der vielen Neueingänge gedenke, eine neue Gruppe zu bilden, und bat die Gruppenführer, jemanden als Führer der neuen Gruppe vorzuschlagen. Dominik schlug mich vor. Ich werde morgen eine schriftliche Prüfung ablegen. Die Prüfung soll Fragen zu Hitler's Mein Kampf' enthalten. Das sollte eigentlich kein Problem für mich darstellen.
Dienstag, 23. Dezember
Einer meiner Schützlinge wurde aus der Schule geschmissen, weil er einen
Tschechen verprügelt hat. Er hatte deswegen etwas Ärger zu Hause
und war daher etwas niedergeschlagen. Nach drei Flaschen Bier ging es ihm
aber schon wieder gut, und er war wieder ganz der alte. Hat er doch glatt
drei Albaner alleine verprügelt. Ich versicherte ihm, dass er schlimmstenfalls
bei uns immer Zuflucht finde.
Marco dürfte sich ein Beispiel an ihm nehmen, ich musste ihn den ganzen
Tag und die Nacht über an den Baum im Garten binden, hatte er doch tatsächlich
die Unverfrorenheit, schon wieder einen Befehl zu verweigern. Aber ich bin
zuversichtlich, dass auch er es noch lernen wird.38)
Sonntag, 16. Januar (3 Jahre später)
Die heutige Bilanz: 10 Albaner, 2 Italiener und 1 Russe im Krankenhaus, 2
davon mit schweren Verletzungen. 100 Gramm Hasch, ½ Kilo Kokain, 5
Pillen LSD.
Allmählich habe ich das Gefühl, wir werden dieses Gesindel nie los.
Ich hab ja schon gehört, dass diese Bastarde massenhaft Nachkommen produzieren,
allmählich glaube ich sogar daran. Dominik bereitet mir langsam Sorgen.
Ich habe das Gefühl, dass ihm langsam die Puste ausgeht. Er kommt kaum
mehr mit auf Streife. Ich meine, auch ich bin Scharführer, aber deshalb
auf das Vergnügen der täglichen Sauftouren verzichten, das könnte
ich nicht. Er sondert sich immer mehr von uns ab und unterhält sich nur
noch mit den Oberscharführern.
Dienstag, 8. Februar
Dominiks Anhänglichkeit an die Oberscharführer macht mich langsam
ein wenig skeptisch. Aus diesem Grund habe ich Gabriel auf ihn angesetzt,
er solle ihn im Auge behalten. Das bot mir auch gleich die Gelegenheit, Gabriel
meine Bewunderung für seine ausgezeichneten Leistungen als Gruppenführer
auszusprechen und um ihm mitzuteilen, dass ich ihn gerne als Nachfolger in
Betracht ziehe, sollte ich mal zum Oberscharführer ernannt werden.
Gegen Abend traf ich auf der Veranda auf einen der Neuen. Er sah etwas bedrückt
aus. Da musste ich daran denken, wie ich damals dort sass und mir den Kopf
über die ganze Sache mit Michael zerbrach, und plötzlich kam mir
das alles so lächerlich vor.
38) Das Patentrezept für Probleme in der Union: Alkohol und Prügeleien.
Der Junge Skinhead wird in der Union für dasselbe bejubelt und gefeiert,
für das man ihn zu Hause und in der Schule bestraft.
Was musste ich damals für ein Idiot gewesen sein, meine wertvollen Gedanken an so einen dämlichen, verweichlichten Narren des Systems zu verschwenden. Damals hatte ich noch Zweifel, ob ich das Richtige tue. Wie konnte ich so dumm sein. Auch wenn der Alltag mit all seinen Alkohohlexzessen und mit dem dauernden Kampf gegen das Böse auf die Dauer etwas fad wirkt, in solchen Momenten wird mir wieder klar, wofür ich kämpfe. Ich setzte mich zu dem Jungen und fragte ihn, was ihn bedrücke. Er erzählte, dass seine Schwester absolut kein Verständnis für seine Überzeugungen aufbringen könne. Und ich sagte zu ihm so was wie, dass sich das schon wieder einrenke und falls nicht, dass wir immer für ihn da seien, wir seien Brüder. Dann zogen wir los, um die Strassen zu säubern.
Freitag, 25. Februar
Gabriel überbrachte mir heute eine schreckliche Information. Er hatte zufällig gehört, wie sich Dominik mit Reto unterhielt. Dabei soll Dominik von mir gesprochen haben, dass ich zu impulsiv, zu unkontrolliert sei und er sich angeblich Sorgen um mich mache. Langsam wird mir klar, was er vor hat. Dieser verlogene Schleimer will Oberscharführer werden und denkt, dass er schneller zum Ziel käme, indem er mich anschwärzt. Wir werden ja noch sehen, wer von uns beiden Oberscharführer wird.39)
Samstag, 26. Februar
Der Junge von der Veranda hat seine Sorgen ziemlich schnell vergessen. Wenn
ich sehe, wie andere den Weg beschreiten, den ich einst ging, erweckt das
in mir ein Gefühl der Hoffnung. Dann sehe ich, dass nicht alle so sind
wie ein Michael oder ein Rolf. Ja, es besteht noch Hoffnung.40)
Ich ging heute nicht auf Streife, da ich etwas erschöpft war. Die Woche
war doch ziemlich hektisch. So ergab es sich, dass ich meinem Mentor über
den Weg lief. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich mal mit ihm zu unterhalten,
denn man bekam ihn ansonsten kaum zu Gesicht. Zuerst unterhielten wir uns
über ganz allgemeine Dinge, wie die Streitfrage, ob Hitler den Krieg
hätte gewinnen können, wenn er etwas früher auf die Angriffe
der Alliierten reagiert hätte, und solche Sachen. Dann fragte ich ihn,
ob ich ihn etwas Persönliches fragen dürfe. Er bejahte und ich gab
ihm zu verstehen, dass ich mich ein wenig um Dominik sorge, da dieser doch
einen etwas niedergeschlagen Eindruck auf mich mache. Früher sei er so
voller Elan gewesen. "Sie hätten das Glänzen in seinen Augen
sehen sollen, wenn er wieder einen Türken oder Albaner überwältigt
hatte", sagte ich, "und jetzt geht er kaum mehr auf Streife."
39) P ist in der Union aufgestiegen, doch scheint er einiges an Euphorie
eingebüsst zu haben. Sein Alltag ist Routine und auch sein Verhältnis
zu Dominik ist sehr angespannt. In den oberen Reihen der Union scheint die
zuvor so gepriesene Brüderlichkeit und die Loyalität unter Kameraden
nachzulassen. Die anfänglich als Sorge bezeichnete Aufmerksamkeit Dominik
gegenüber entpuppt sich schnell als Misstrauen. Man spürt allmählich
das Konkurrenzdenken, das von P Besitz ergreift. P will offensichtlich Oberscharführer
werden und Dominik scheint ihm im Weg zu sein. So ringen scheinbar beide um
die Annerkennung ihrer Vorgesetzten, indem sie den anderen auszustechen versuchen.
40) Als P den Jungen auf der Veranda sieht, erinnert er sich daran, wie er
selbst schon mal da sass. Es ist eine Situation, die er kennt und in der er
sich wohl fühlt, sie verkörpert, die Geborgenheit, die er damals
verspürt hatte und sie baut ihn wieder auf. Tatsächlich scheint
es so, dass P diese Bestätigung im Moment braucht, da ihm dieselbe Geborgenheit
in den oberen Reihen der Union momentan fehlt. Er setzt sich zum Jungen hin
und spricht zu ihm, wie es damals Eugen bei ihm tat. Als er dann etwas später
sieht, dass es dem Jungen wieder gut geht, weil er die selben Entschlüsse
fasste, sprich sich von seinen Freunden loslöste und sich der Union anvertraute,
genauso wie er es damals auch tat, sieht er sich durch den Jungen in seinem
Handeln bestätigt.
Es sei ihm nicht aufgefallen, aber er werde sich in Zukunft darauf achten, entgegnete er. Dann schwiegen wir einen Moment. Darauf fragte er ganz unerwartet: "Da ist doch noch was anderes, was du mich fragen willst, hab ich Recht?" Ich spürte, dass das die Gelegenheit war, auf die ich wartete, also liess ich die Katze aus dem Sack und sprach das stets im Hintergrund gehandelte Thema an: "Die Drogen. Was passiert mit all dem Stoff, den wir dauernd an die obere Instanz weitergeben?" Und er entgegnete: "Jetzt wird mir einiges klar, du willst zum Oberscharführer ernannt werden, stimmt's?" Seine Frage erschreckte mich fast ein bisschen, vor allem, da sie der Wahrheit entsprach. Ich wollte natürlich wissen, wie er darauf komme. Dass man mit der Zeit ein Gespür für so was entwickle, war das einzige, was er dazu sagte. Er lächelte und ging. Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll.41)
Donnerstag, 10. März
Reto wurde heute von ein paar Unbekannten erschossen.42) Die Polizei hat
zwei Jungs, die bei ihm waren, zur Befragung aufs Revier mitgenommen. Wie
der Mentor uns mitteilte, haben sie bisher geschwiegen, was die Union betrifft,
woher er das auch immer wusste.
Er berief eine Versammlung aller Unionsanhänger ein. Man konnte förmlich
spüren, wie nah ihm Retos Tod ging. Ich hatte ihn noch nie so wütend
gesehen. Er stand aufs Podest und blickte erst mal mit einem düsteren
Blick in die Runde, die mittlerweile zweihundertfünfzig treue und ergebene
Mitglieder umfasste. Dann begann er:
"Ihr alle wisst, weshalb wir uns hier versammelt haben. Reto war einer
der loyalsten und pflichtbewusstesten Kämpfer für die gemeinsame
Sache, den die Union je gesehen hat. Ich bedaure seinen Verlust zu tiefst.
Gewöhnlich pflegt man in solch einem Moment eine Schweigeminute zu halten",
er erhob seine geballte Faust, "doch ich sage, das Schweigen soll nun
vorbei sein. Lange genug haben wir geschwiegen und zu gesehen, wie unser geliebtes
Land, unsere Nation an einer bestialischen Seuche zu Grunde geht. Ihr wisst
wovon ich spreche, diese Bastarde von Negern, Türken, Albanern und dem
sonstigen Gesocks verpesten unsere Strassen, sie vergiften unser Volk und
töten es. Seit Jahren versuchen wir die Schweiz von diesem Elend zu befreien
und wir haben viel erreicht in dieser Zeit. Doch wir tun noch nicht genug.
So etwas wie heute, darf nicht mehr passieren, schon gar nicht, ohne dass
es auch ein paar von diesen Hurensöhnen erwischt. Lasst uns diesen Bastarden
zeigen, wer in dieser Stadt das sagen hat."43)
41) Nun tut P genau das, was er Dominik zuvor angelastet hat. Er schleimt
sich, noch eine Stufe höher als Dominik, direkt beim Führer ein
und schwärzt Dominik ein wenig an, zwar sehr dezent, aber auch sehr verschlagen.
Der Führer weiss ganz genau, was P im Sinn hat, trotzdem scheint ihm
das zu gefallen, denn solche Konkurrenzkämpfe kommen dem Führer
natürlich sehr gelegen und werden von ihm auch bewusst gefördert,
denn auf diese Weise hat er Kontrolle über alles, was in der Union vor
sich geht. Er weiss genau, wenn einer gegen die Regeln verstösst, dann
gibt es mit Sicherheit auch einen, der den Übeltäter bei ihm verrät.
Der Konkurrenzkampf unter den Unionsmitgliedern ist also von entscheidender
Bedeutung für den Führer und seine Herrschaft.
42) Retos Tod erwähnt P völlig emotionslos, als liesse es ihn kalt.
Schliesslich kommt ihm Retos Tod im Hinblick auf sein Ziel, Oberscharführer
zu werden, gar nicht ungelegen und wie P annimmt, hat Reto sich ja auch von
Dominik einschleimen lassen. Diese Ahnteilnahmslosigkeit könnte bedeuten,
dass P unterdessen völlig kalt und gewissenlos geworden ist, vielleicht
ist auch der Tod an sich in der Union langsam zur Gewohnheit geworden. Es
wäre auch möglich, dass P es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren
kann, dass er nun vielleicht ausgerechnet auf diese Weise sein Ziel erreicht
haben könnte und er deshalb sein Gewissen ausschaltet.
43) Dasselbe Szenario ist schon aus der Rede nach dem Tod von Mike bekannt.
Wieder nutzt der Führer, die Situation aus, um noch mehr böses Blut
zu schaffen, als ohnehin schon vorhanden ist. Und wieder ändert er die
Ziele der Union: Vertreibung wird durch Vernichtung ersetzt. Betrachtet man,
wie sich die Ambitionen der Union schrittweise verändert haben, sieht
man, wie sich ein Schema durchsetzt, dass in Shoah (Lanzmann) in Bezug auf
den Holocaust eindrücklich dargestellt wurde. Erst hiess es: "ihr
dürft nicht unter uns Leben als Juden" (bzw. Ausländer). Dann
wurde nach und nach ein Stücken des Satzes entfernt, so hiess es danach:
"ihr dürft nicht unter uns Leben", und zuletzt: "ihr dürft
nicht Leben."
Nach seiner Rede kam der Mentor zu mir und bat mich in sein Büro. Dort
gab er mir einen, wie er sagte, äusserst delikaten Auftrag. Ein Mitglied
der Union solle anlässlich dieses Todesfalls beabsichtigt haben, sich
mit der Presse in Verbindung zu setzen. Ich solle dieser Entgleisung Einhalt
gebieten.
Christoph, so hiess der kleine Verräter, war gerade auf dem Weg nach
Hause, als wir ihn erwischten und ihm eine Tracht Prügel verpassten.
Ich denke, dass ihm das eine Lehre war, er wird es sich in Zukunft zweimal
überlegen, bevor er sich entschliesst, gegen die oberste Direktive unseres
Reglements zu verstossen.44)
Freitag, 11. März
Gleich am Morgen erstattete ich meinem Mentor Bericht, der sich sehr zufrieden zeigte und meinte, er hätte da noch einen anderen Auftrag für mich, den eigentlich Reto hätte erledigen sollen. Er bat mich, ich solle mich setzen und meine Waffe auf den Tisch legen. Was ich denke, was so eine Waffe kostet, wollte er wissen, und ich antwortete: "Eine Menge". "Genau", sagte er und fuhr fort: "Du wolltest wissen, was mit den Drogen passiert, die wir tagtäglich beschlagnahmen. Nun da siehst du's. Wir verkaufen sie wieder und mit dem Erlös finanzieren wir dieses Haus, die Trinkeskapaden und sogar die Waffen. Natürlich verkaufen wir sie wieder an irgendwelche Ausländer, und da wir sie ihnen ständig wieder abjagen, bleibt der Schaden, den sie anrichten, entsprechend gering." Klingt einleuchtend, dachte ich.45) Mein Auftrag war es nun, am Samstag Abend einen der Oberscharführer zu begleiten und den Verkauf des Stoffes zu überwachen. Genauere Instruktionen sollte ich dann vom Oberscharführer erhalten. "Übrigens, es wurde noch kein Nachfolger für Reto bestimmt", fügte der Mentor noch hinzu, während ich den Raum verliess.
44) Die Täter, die Reto erschossen haben, sind Unbekannte. Doch günstigerweise
können die Unionsmitglieder ihre Aggression an Verrätern in den
eigenen Reihen auslassen. P übernimmt diese Aufgabe mit Vergnügen,
vielleicht wieder mit seinem persönlichen Ziel vor Augen, vielleicht
aber auch, weil ihn Retos Tod doch nicht so kalt lässt und er seine innere
Wut über dessen Tod an jemandem auslassen muss. Trotzdem bleibt dieser
mögliche Hoffnungsschimmer' äusserst fragwürdig, wenn
man dann wieder Sätze antrifft, wie weiter unten: "Tja, Pech, wenn
man auf jemanden setzt, um weiter zu kommen, und dieser dann einfach erschossen
wird".
45) Dies ist eine Möglichkeit, wie sich eine Gruppierung, wie die Union
finanzieren kann. In den U.S.A. gab und gibt es vermutlich immer noch auch
Fälle in den sich solche Gruppierungen durch Schutzgelderpressung finanzieren.
Hinzu kommen Gönner aus rechten Kreisen und auch rechte Politiker, die
sich oft auch als Kopf solcher Organisationen entpuppen und über ein
beträchtliches Vermögen zu deren Finanzierung verfügen.
Wie besessen P von seinem Ziel, Oberscharführer zu werden, ist, zeigt
die Leichtgläubigkeit, hinter der er sich versteckt. So schluckt er die
fadenscheinige Ausrede des Führers, sie nähmen den Ausländern
die Drogen ja sowieso wieder ab, ohne sie zu hinterfragen, ohne sich zu überlegen,
dass diese Drogen so oder so früher oder später ihre Konsumenten
erreichen.
Draussen traf ich auf Dominik. Er hatte von meinem gestrigen Auftrag gehört und gratulierte mir zu dessen gelungener Ausführung, allerdings mit einem sehr ironischen Unterton. Konnte es sein? War er vielleicht neidisch, dass mir der Mentor plötzlich solche Beachtung schenkte, die ihm vergolten blieb? Tja, Pech, wenn man auf jemanden setzt, um weiter zu kommen, und dieser dann einfach erschossen wird. Ich wollte weiter gehen, da hielt er mich zurück, und ich dachte: "Mein Gott, will er sich jetzt etwa bei mir einschleimen?" Er sah mich an und sagte: "Hey, ich mach mir langsam Sorgen, ich meine, wo führt das denn noch hin, wenn wir schon auf die eigenen Leute losgehen." Unfassbar, dass ausgerechnet er das sagte, er, der versucht hatte, mich bei Reto anzuschwärzen. "Willst du etwa die Autorität unseres Mentors in Frage stellen", fragte ich. Er schwieg einen Moment, blickte nachdenklich zur Seite und schüttelte den Kopf. "Gut", sagte ich und ging.46)
Mittwoch, 16. März
Was heute geschehen ist, ist so ziemlich das letzte, was ich im Moment brauche.
Willy war heute mit seinen Leuten in unserem Hauptquartier. Einer der beiden
Jungs, die sie aufs Revier mitgenommen hatten, hat nun doch geredet, was ihm
noch Leid tun wird, der Mentor hat bereits einen der Scharführer auf
ihn gehetzt.
Mich musste der Bulle Willy natürlich persönlich befragen. Was für
eine Tortur an Moralpredigten und Vorwürfen. Er sagte auch, dass Mutter
es immer noch nicht verkraftet hat, dass ich abgehauen bin, dass Vater kein
Wort darüber verloren habe, was jedoch nur heisst, dass er von mir enttäuscht
ist, als würde mich das interessieren. Ich habe zwar nicht erwartet,
damit irgend was bei ihm zu erreichen, doch ich sagte ihm, dass wir in den
letzten vier Jahren mehr für diese Stadt getan hätten, als er es
in seinem ganzen, armseligen Bullenleben je werde tun können. Wie er
mich zur Vernunft bringen könne, wollte er wissen, einfach lächerlich!
Wie wenig sich Willy in den letzten Jahren doch verändert hat, er ist
immer noch dasselbe aufgeblasene Arschloch, das er damals schon war. Schliesslich
musste ich ihn bitten, sich wegzuscheren, worauf er entgegnete: "Ich
behalte dich im Auge". Der grosse Polizist, was für ein Held.
Donnerstag, 9. Juni
Gestern Nacht wurde Dominik von ein paar Türken angefallen, die sich
einbildeten, sie hätten das Recht, sich an uns zu rächen, weil wir
ihnen Koks im Wert von etwa zweitausend
Franken abgejagt hatten. Sie stachen in nieder. Nach der Trauerrede am Abend
bat mich mein Mentor in sein Büro, wo er mir erzählte, dass wir
einen von den Türken in unserer Gewalt hätten, ich solle mich doch
Morgen gleich seiner annehmen, um in Erfahrung zu bringen, wo sich die anderen
seiner Sippe aufhalten.
46) In dem kurzen Gespräch mit Dominik wird deutlich, dass die übeln
Eigenschaften, die P ihm zuschrieb vorwiegend seine eigenen waren. Denn Dominik
ist tatsächlich nicht mehr so überzeugt von den Werten der Union
und hatte wohl in Anbetracht dessen kaum wirklich im Sinn Oberscharführer
zu werden. So ist es schliesslich gerade P, der auf Dominik eifersüchtig
ist und ihn deshalb anschwärzte, der sich bei seinen Vorgesetzen einschleimt
und der um jeden Preis Oberscharführer werden will. Indem Dominik seine
Zweifel andeutet, scheint auch P zu merken, dass vor allem er es war, der
diese Schwächen' aufwies, umso mehr muss er Dominik seine Überlegenheit
am Ende des Eintrags vom 11. März demonstrieren. Dies tut er anhand einer
stillen Drohung, denn beiden ist klar, das P dem Führer von Dominiks
Zweifel erzählen und ihn damit in eine ziemlich unangenehme Lage bringen
könnte.
47) Zu diesem Eintrag, drängt sich vor allem eine Frage auf: Wäre
P seine Familie wirklich so egal, wie er es darstellt, würde er dann
tatsächlich einen ganzen Eintrag an sie verschwenden?
48) Auch hier stellt sich wieder die Frage wie es um P's Gewissen steht. Schliesslich
war es Dominik, der ihn in die Union brachte, und nun zeigt nicht das geringste
Bedauern über dessen Tod, noch nicht mal ein Fünkchen Wut, wie es
bei Reto noch minim der Fall war.
4. Teil - Im Gefängnis
Donnerstag, 30. Juni
Dies ist der erste Eintrag seit langem. Die Scheissbullen in der Untersuchungshaft
haben mir noch nicht mal etwas zum Schreiben in die Zelle gegeben, nur so
eine Scheiss Bibel. Nun ist der Prozess vorbei. Schwere Körperverletzung,
die Anklage; fünf Jahre in der kantonalen Strafanstalt, die Strafe. Und
da sitz ich nun, in den Knast geworfen vom eigenen Bruder.
Die ganze Sache spielte sich vor etwa drei Wochen ab, am Freitag, dem 10.
Juni. Ich begab mich zu der alten Schuhfabrik, in deren Keller wir die Geisel
festhielten, um sie zu verhören.
Auch Stefan und Kurt waren da. Sie waren Gruppenführer in Dominiks Schar
und bestanden darauf, dass ihnen die Ehre gebührte, an diesem Verhör
und natürlich auch am Rachefeldzug teilzunehmen. Der Mentor hatte uns,
den Oberscharführern, einiges in Sachen Verhörtechniken beigebracht,
und ich konnte es kaum erwarten, diese zu erproben. Ich liess Kurt und Stefan
kleine, aber tiefe Ritze in die Haut dieses Bastards schneiden, während
ich meine Utensilien bereitstellte. Feuer, Eis, Alkohol und etwas Salzsäure
und ab und zu der eine oder andere Hieb zur Erholung, das würde garantiert
seinen Stolz brechen und ihn zum Sprechen bringen. Es dauerte tatsächlich
eine ganze Stunde, bis er zum ersten Mal seinen Mund öffnete. Das erste,
was ihm bluttriefend entfiel, war: "Ihr Nazischweine". Ich schlug
einmal kräftig auf ihn ein und wollte dann gerade fortfahren, als er
keuchend zu meinen Gefährten sprach: "Sagt diesem verdammten Psycho,
dass er von mir nichts erfährt." Ich weiss nicht, was dann über
mich kam, ich begann einfach auf ihn einzuschlagen immer fester, immer schneller.
Ich konnte richtig spüren, wie sich meine geballte Wut ins Unermessliche
steigerte und einfach mit aller Kraft aus mir raus wollte. Vielleicht, weil
ich eine Stunde lang alles genau so getan hatte, wie ich es von meinem Mentor
gelernt hatte und trotzdem versagte, oder einfach, weil er zu denen gehörte,
die Dominik getötet hatten. Ich hörte Stefan und Kurt auf mich einreden,
ich brächte ihn ja noch um, bevor er uns was erzählen könne,
aber ich ignorierte sie und schlug weiter auf ihn ein. Dann hörte ich
ihn schreien: "Stop! Stop! Ich rede! Ich rede!" Doch ich ignorierte
auch ihn und schrie: "Wir brauchen solche Bastarde wie dich nicht, hörst
du, wir brauchen dich nicht!"49)
49) P versucht sich selbst verschiedenste Gründe für seinen plötzlichen
Wutausbruch zu geben. Tatsächlich liegt der wahre Grund auf der Hand
und ist P im tiefsten Innern wohl klar, ohne dass es ihm vielleicht bewusst
ist. P rastet genau in dem Moment aus, als das Opfer sich an seine Lakaien
wendet und nicht an P selbst. Diese Methode, jemandem seine Verachtung zu
demonstrieren, kennt P nur zu gut von seinem Vater. Auch als er den Türken
mit den Worten "Wir brauchen dich nicht" anschreit, fragt man sich
an wen diese Worte wirklich gerichtet sind, bzw. auf wen sich diese immense
Aggression dahinter tatsächlich richtet, denn mit den selben Worten verliess
P sein Elternhaus. "Angst ist nur etwas für Schwächlinge",
tadelte ihn sein Vater, und wer P danach einen Schwächling nannte, der
weckte seine Aggression. Es scheint als hätte der Vater oft eine zentrale
Bedeutung in P's Aggression. Unter anderem sieht auch Adorno (S. 322ff) eine
mögliche Erklärung für das häufig aggressive Verhalten
solcher Menschen wie P, darin, dass sie den Ödipuskonflikt nicht überwunden
und damit den Weg zur Selbständigkeit nicht gefunden haben. Zwar hat
P seinem Vater die Meinung gesagt und sich so in gewisser Weise von ihm losgelöst,
dennoch gelang das nur, indem er sich einer andern Autorität unterstellte
und künftig von dieser abhängig wurde, die Rede ist dabei von der
Union bzw. vom Führer derselben. Trotzdem hat er sich nie wirklich mit
den Problemen zwischen ihm und seinem Vater auseinandergesetzt, geschweige
denn diese verarbeitet, doch wäre gerade das nötig, um sich endgültig
vom Elternhaus lösen und selbstständig werden zu können. Das
daraus resultierende Unvermögen, eine gewisse Selbständigkeit auszubilden,
macht P ständig von Menschen abhängig, welche ihn beeinflussen und
auch kontrollieren können. Zugleich neigt er auch vermehrt zu aggressivem
Verhalten, das sich eben dadurch erklärt, dass es stets eine Instanz
über ihm gibt, eine Autorität, gegen die er sich nicht zur Wehr
setzen kann. Daraus ergibt sich eine Ohnmacht, die ihn im innersten verunsichert
und sogar verängstigt. Die tieferen Gründe für diese Aggression
sind vermutlich ebenso individuell, wie umstritten. Einige denkbare, damit
verbundene Ängste und Unsicherheiten habe ich angesprochen und ich habe
versucht darzustellen, wie sie als Quelle von Aggression dienen können.
Einen Moment später stürmten die Bullen in den Keller. Wie ich später erfuhr, hatte Willy, dieser Mistkerl von einem Bruder einen anonymen Tipp bekommen. Sie schafften mich ins Gefängnis und den Türken ins Krankenhaus.50)
Freitag, 1. Juli
Heute hab ich erfahren, was Gerechtigkeit in unserem Staat bedeutet. Einem der Sträflinge musste mein auf dem Rücken eintätowiertes Hakenkreuz unter der Dusche aufgefallen seinen. Auf dem Hof kamen dann ein paar Ausländer und sonst ein paar unterentwickelte Sträflinge auf mich zu, um mich so richtig zu verprügeln. "Nazisau" und "Rassistenschwein" riefen sie mir zu, während sie mich traten, bis dann schliesslich die Wärter gemütlich daher stolzierten, um endlich einzuschreiten. Undankbare ignorante Narren sind sie, nichts weiter.
Samstag, 2. Juli
Am Mittag setzte sich ein Neger zu mir an meinen Tisch. Ich sagte, er solle verschwinden. Aber er reagierte nicht darauf. "Hör zu", begann er, "du verschonst uns mit deinen Naziparolen und gehst uns aus dem Weg, und wir lassen dich dafür in Ruhe. Ach ja, und dein Tattoo wollen wir auch nicht mehr sehen. Halt dich an die Regeln, dann wirst du keine Probleme haben." "Und wenn nicht", fragte ich. "So lebensmüde bist du nicht", sagte er und verschwand. Woher will dieser verdammte Neger das wissen? Beobachtet mich einen Tag und meint schon, mich zu kennen, und da heisst es, wir seien voreingenommen.
Donnerstag, 28. Juli
Heute wurde mein Zellenkumpane entlassen. Als Ersatz kam ein Türke in meine Zelle. Er machte erste Versuche, sich mit mir anzufreunden. Ich löste kurz das Pflaster von meiner Schulter, so dass er das Tattoo sehen konnte. Danach schwieg er.
50) Die gegen den Bruder gerichtete Wut habe ich bislang nur damit erklärt,
dass sie sich nicht gegen die Autorität des Vaters richten kann und deshalb
am Bruder ausgelassen wird. Um zu zeigen das, dass nicht nur eine Komponente
zum aggressiven Verhalten von P beitragen muss, will ich noch einen weiteren
Aspekt erwähnen, der das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern
betrifft. P kommt als zweites Kind in die bereits bestehende Familie, also
quasi als Fremdling in eine geschlossene Gesellschaft, an die es sich anpassen
muss. Schafft es das nicht, empfindet es sich als störendes Element.
Weiter fühlt es sich dem grossen Bruder gegenüber benachteiligt,
da dieser schon einen gewissen Heimvorteil hat. Der grosse Bruder dagegen
fühlt sich unter Umständen in seiner zuvor alleinigen Domaine als
Kind seiner Eltern bedroht, da er auch mit kriegt, dass die Eltern nicht mehr
nur ihm ihre ganze Aufmerksamkeit schenken, sondern auch dem zweiten Kind.
Dies kann schliesslich einen dauerhaften Konkurrenzkampf zwischen den Brüdern
zur Folge haben, bei dem das zweite Kind als solches unter Umständen
stets das Unsicherere ist, da ihm der grosse Bruder in punkto Erfahrung und
auch Selbständigkeit gewöhnlich immer einen Schritt voraus sein
wird. Dies ist zwar völlig natürlich, aber das wird dem Zweitgeborenen
nicht klar sein.
Montag, 1. August
Der Nationalfeiertag. Bestimmt sind die andern gerade am Feiern. Und ich sitze hier, in meiner Zelle, und versuche, mir möglichst diesen Türken vom Leib zu halten. "Was hast du eigentlich gegen uns?", "Willst du mich die nächsten paar Jahre nur anschweigen?" oder "Was sagt deine Familie dazu?" sind seine Lieblingsfragen, die ich mir tagtäglich anhören darf. Doch am schlimmsten ist es abends, wenn er anfängt, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen und dann noch hinzufügt, ich müsse ja nicht zuhören. Ich würde ihm ja gern das Maul stopfen, aber dann hab ich am nächsten Tag die andern Ausländer am Hals. Ihn anzuschweigen ist alles, was ich tun kann. Es ist einfach zum Kotzen. 51)
Freitag, 2. September
Ich muss zugeben, ich bin ein wenig verwirrt. Michael war heute zu Besuch. Er war ja wohl der allerletzte, den ich hier erwartet hätte, aber er war da. Zuerst stammelte er ein paar Floskeln runter, wie es mir so gehe und so was, dann begann er sich allmählich zu entschuldigen, dass er mir nicht ein besserer Freund gewesen war. "Wieso denn, du hast mir ja nur die Freundin ausgespannt", sagte ich, worauf er völlig perplex erschien und mich fragte, wovon ich überhaupt spreche. Als ich dann erwiderte, er wisse ganz genau, wovon ich spreche, stand er auf und murmelte noch so was, wie dass es ein dumme Idee gewesen sei, hierher zu kommen. So ging er wieder. Nicht, dass ich ihm glauben würde, doch anderseits frage ich mich, wozu er hergekommen ist. Um mich zu verpönen? Den Eindruck hatte er eigentlich nicht gemacht. Ich verstehe es nicht.52)
Freitag, 7. Oktober
Dieser subtile Mistkerl von einem Türken hat mich heute wirklich zum Reden gebracht. Er laberte mich wieder mal voll, und irgendwie wurde es mir einfach zu viel. Ich hielt ihn bloss an, er solle die Klappe halten. Daran hatte er natürlich gleich einen Narren gefressen. Hatte er doch mein Schweigen gebrochen. Was für eine Leistung! Dann besass er sogar noch die Unverfrorenheit, sich daraus das Recht abzuleiten, mich zu fragen, was ich eigentlich davon hätte, ihn dauernd anzuschweigen. Als würde er das verstehen.
51) Die wohl wichtigste Frage, die man sich in Bezug auf rechtsextreme, rassistische
Menschen stellen kann und sollte, ist: wie macht man ihnen klar, dass sie
auf dem Holzweg sind? Wie bekämpft man solche Vorurteile?
Auch dafür gibt es verschiedenste Ansätze. Für die Bekehrung'
von P habe ich ein Beispiel ausgewählt, dass mir wenigstens ansatzweise
Plausibel erschien. Es beginnt mit einer Phase, die der Schwarze mit seinem
Vorschlag' einleitet:
P lässt sie in Ruhe und sie ihn. Dies meint erst mal nur physischen Abstand.
Jeder lebt für sich und akzeptiert (wenn auch zuerst zwangsläufig),
dass der andere neben an lebt. Zugleich erzielt auch der Türke in derselben
Zelle eine Gewisse Wirkung, die später zur Sprache kommt.
52) Die Isolation von der Umwelt ist die Bedingung für die zweite Phase,
da sie P genügend Zeit liefert, um über sich und über das Geschehene
nachzudenken. Unter dem ständigen Einfluss der Union hätte er sich
kaum Gedanken über Michaels Besuch und dessen Reaktion auf die Anschuldigung
gemacht, zumal er dann ja auch nie von ihm besucht worden wäre. Nun,
da er Zeit im Übermass hat, um darüber nachzudenken, besteht die
Chance, dass er früher oder später einsieht, dass er sich in Bezug
auf die Affäre zwischen Jennifer und Michael geirrt haben könnte.
Donnerstag, 14. April
Was heute geschehen ist, ist mir wirklich ein Rätsel. Ich bin mir das
Gerede von Ützgür, so heisst der Türke, ja langsam gewohnt.
Trotzdem konnte ich mich heute nicht beherrschen. Einen Moment lang vergass
ich alle Konsequenzen, die es nach sich ziehen konnte und ging auf ihn los.
Als ich ihn dann gepackt hatte, besann ich mich wieder auf meine Situation,
dass ich von lauter Ausländern umgeben war und liess ihn wieder los.
Er sah mich wütend an.
Dann schwieg er den ganzen Rest des Tages, auch abends.
Donnerstag, 21. April
Ich habe mein Ziel erreicht. Ützgür hat nun schon eine ganze Woche geschwiegen. Irgendwie ist es schon ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, wenn am Abend diese totale Stille einbricht, irgendwie so ungewohnt, fast etwas unheimlich. Nicht, dass mich irgend etwas von seinem Gelaber interessiert hätte, aber zwischen durch ist es besser, sich irgend einen Schrott anzuhören, als gar nichts.
Montag, 25. April
Aus irgend einem mir völlig schleierhaften Grund musste ich heute daran denken, wie Ützgür die Geschichte von der Beschneidung eines Neffen erzählt hatte. Die haben schon merkwürdige Gebräuche. Jedenfalls rutschte es mir dann einfach so raus: "Was soll das eigentlich, diese Beschneidungen?" Ich konnte einen Moment lang kaum glauben, dass ich das wirklich gefragt hatte. Mit einem kurzen Zögern begann er dann zu gestehen, dass er in der Schweiz aufgewachsen sei und es zwar als Kind mal gehört hätte, aber dass er es nicht mehr so genau wisse, es hätte irgend etwas mit dem Koran zu tun. Das solle aber nicht heissen, dass er kein Gläubiger Moslem sei.53)
53) in der dritten Phase geht es darum die Fähigkeit, vorurteilsfreie
Erfahrungen machen zu können, (wieder) zu erlernen. Bei P sind noch sehr
viele Emotionen im Spiel und so überschneiden sich die einzelnen Phasen:
Zweifellos ist die zweite Phase, die eine Art Selbstfindung darstellt, noch
nicht abgeschlossen, denn P weigert sich immer noch zuzugeben, dass er das
Gelaber' von Ützgür eigentlich vermisst, dennoch interessiert
es ihn, was hinter den Beschneidungen steckt, aber das wieder nur aus einem
schleierhaften Grund'.
Donnerstag, 22. Mai (4 Jahre später)
Es dauert noch etwa einen Monat bis zu meiner Entlassung. Ich fürchte mich fast ein wenig davor. Nicht, dass ich mich nicht auf die Freiheit freuen würde. Aber es wird nicht einfach sein, neu anzufangen. Ich habe keine Berufslehre, keine Bleibe und wie ich der Union begegnen soll, weiss ich auch nicht. Es verwirrt mich immer noch, wenn ich daran zurückdenke, wie ich vor fünf Jahren hierher kam, und wie ich mich damals fühlte. Es ist schon merkwürdig, wie fünf Jahre hier drin einen Menschen verändern können. Ützgür ist nun schon ganze zwei Jahre wieder draussen. Ich werde ihn wohl kaum wiedersehen. Diese Tatsache erscheint mir völlig absurd, wenn ich daran denke, dass er es war, der mich dazu brachte, mein eigenes Tagebuch zu lesen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er selber erwartet hat, dass es mir auf diese Art und Weise die Augen öffnen würde. Er hat sich nie dazu geäussert. Als ich damit begann, mein Tagebuch zu schreiben, schrieb ich immer mit dem Gedanken, dass es vielleicht mal irgend jemand liest, oder dass ich vielleicht mal berühmt werde und es dann Jahre nach meinem Tod veröffentlicht würde. Der naive Traum eines Kindes. Womit ich wirklich nie gerechnet hätte, war, dass es mir dienen sollte, um mich selber zu finden, um Gefühle wieder zu erwecken, die mich in die Irre geführt hatten und Gedanken, mit denen ich mich in der Irre einnistete. Sogar jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, stelle ich mich in ein besseres Licht, als es mir gebührt. Ich schildere mich, als unterdessen reifen und erfahrenen Menschen, der seine Fehler erkannt und aus ihnen gelernt hat. Aber wie Ützgür richtig erkannte: Das reicht nicht, denn eines habe ich bisher vermieden, die Probleme anzusprechen, welche mich dazu trieben die Fehler zu machen, die ich machte, teils wissentlich, teils nicht, und allmählich ahne ich wieso.53)
54) P ist sich bewusst, dass einige Hürden auf ihn warten, wenn er aus dem Knast kommt. Doch eines scheint er im Gefängnis gelernt zu haben, nämlich das er diese Hürden alleine, also selbständig bewältigen sollte, denn nichts deutet darauf hin, dass er gedenkt, sich der Hilfe seiner Eltern und gar der Union zu bedienen. Er schreibt nun davon, dass ihm Ützgür die Augen geöffnet hat, und er seine Irrtümer und Fehler erkannt hat, aber auch, dass er sich der wesentlichen Herausforderung noch nicht gestellt hat, womit er wohl gerade meint, sich seinen Ängsten zu stellen, doch dies wird er wohl oder übel tun müssen, wenn er seine Vergangenheit ablegen will.
Schlussbetrachtung
Nun stehe ich am Ende meiner Arbeit und kann, unter Vorbehalt des in der
Einleitung erwähnten Handicaps, recht genau beschreiben, wie jemand wie
mein Protagonist zum Faschist wurde, beziehungsweise welche eben faschistoiden
Charaktereigenschaften dies ermöglichten. Sehr knapp zusammengefasst
sähe diese Beschreibung etwa so aus:
Es fehlt dem Protagonisten an Selbstständigkeit, da es ihm nicht gelungen
ist, diese auszubilden, und dem entsprechend auch an Rückgrad. Um mit
diesem Mangel klar zu kommen, benötigt er stets den Rückhalt einer
Autorität, die ihm die Richtung weist, ihn aber auch kontrollieren und
manipulieren kann. Eine Auflehnung gegen diese Autorität ist nicht möglich,
was ihn im innersten frustriert, da dieser Umstand eine gewisse Ohnmacht darstellt,
die ihn beängstigt. Dadurch staut sich in ihm eine Aggression auf, die
er jedoch nicht an der Autorität entladen kann. So strebt er selber nach
Macht, um seine Ohnmacht auszugleichen und sucht sich ein Feindbild, dass
ihm als Ventil für die aufgestaute Aggression dient. Da es ihm an Rückgrad
fehlt, kann er keine Fehler einsehen. Um Fehler zu kaschieren, schiebt er
die Schuld stets auf andere ab und dreht und wendet die Tatsachen solange,
bis sie seinen Wünschen entsprechen, wozu seine Tendenz zur Stereotypbildung
wesentlich beiträgt.
Die Erkenntnis, die für mich persönlich von entscheidender Bedeutung ist, ist, dass diese faschistische Eigenschaften sich stets aus starken Emotionen ableiten lassen, und dass diese Emotionen vor allem (vielleicht sogar nur) Ängsten zu Grunde liegen. Das zeigt nämlich, welche Stellung Emotionen in der menschlichen Psyche einnehmen können, sind sich doch in der Lage den Verstand zu trügen oder sogar auszuschalten, und darin sehe ich auch das Zentrale Problem, bei der Bekämpfung des Faschismus. Der Faschismus nährt sich von den Gefühlen des Faschisten. Habe ich damit recht, erklärt das, weshalb der Faschismus so schwer zu bekämpfen ist. Er beginnt beim Einzelnen und seinen Ängsten und Unsicherheiten und kann daher auch nur beim Einzelnen bekämpft werden, indem dieser es schafft, mit seinen Ängsten klar zu kommen und seine Unsicherheiten zu zerstreuen, und somit seinen persönlichen Faschismus zu überwinden. Das klingt zwar sehr einfach, da es sich aber um tiefverwurzelte Ängste handelt, wird das ganz bestimmt alles andere als einfach sein, und es wird umso schwieriger, je stärker er im faschistischen System einer Gruppierung verstrickt ist. Wenn man den Faschismus-Kranken' heilen will kommt dann auch das Problem dazu, wie man ihn darauf ansprechen soll, denn gerade weil seine Emotionen wesentlich stärker sein können als der Verstand, kann ich mir nicht vorstellen, dass man über den Verstand etwas beim Betreffenden erreicht. Es müsste meines Erachtens eine Möglichkeit gefunden werden, die Gefühlsebene dieses Menschen anzusprechen. In meiner Arbeit habe ich mich zwar bemüht, eine Variante zu finden, bei der eben nicht der Verstand, sondern das Gefühlsleben des Protagonisten angesprochen wird. Dies geschieht aber im Text eher zufällig, indem er Ützgürs Gerede vermisst und damit sein Unbehagen in der Stille (Angst vor der Einsamkeit) angesprochen wird. Diese Lösung erscheint nicht gerade besonders realistisch und je nach empfinden sogar lächerlich und das ist auch beabsichtigt, denn ich will, dass jeder, der das Ende meiner Arbeit liesst in etwa nach empfinden kann, wie es mir bei meinen Recherchen ging. Ich war regelrecht enttäuscht über die Allerweltslösungen meiner Quellen. Entweder entbehrten sie jedem Realismus, oder sie erschienen mir zu abstrakt oder zu allgemein.
Eine weitere sehr eindrückliche Feststellung oder Erfahrung, die ich
im Laufe der Arbeit gemacht habe ist, dass dieses Thema um einiges komplexer
ist, als man zunächst denkt, selbst wenn man weiss, dass es unheimlich
viel hergibt. Wie ich in der Einleitung bereits erwähnt habe, gibt es
viele Theorien und Erklärungsmodelle sowohl für das Thema an sich,
als auch für die einzelnen Teilbereiche. Ebenso sind in jedem Bereich
Exkurse in verschiedene andere Gebiete der Psychologie erforderlich, um das
Problem wirklich am Kern erfassen zu können. Beispielsweise habe ich
darauf verzichtet den Begriff des Unbewussten in den Kontext zu bringen, nicht
zuletzt, weil ich mir selber noch nicht so sicher bin, welche Prozesse bei
P wirklich bewusst und welche unbewusst ablaufen. So habe ich während
der Arbeit ständig wieder irgendwelche Lücken entdeckt und fand
immer wieder neue Aspekte, die ich bis dahin noch nicht berücksichtigt
hatte, bis ich dann endlich doch noch zu einem Schluss kam, dabei musste ich
mich wiederum oft hüten, dass ich nicht zu weit abdriftete. So wurde
die Arbeit zu einem sehr mühseligen Entscheidungsprozess, darüber,
was in die Arbeit gehört und was nicht.
Umso reicher ist nun die Zahl der Möglichkeiten zur Vertiefung. Für
mich stehen dabei vor allem die vertiefte Auseinandersetzung mit psychischen
Kräften, Emotionen und Ängsten, unter Einbezug der Frage, welche
Prozesse effektiv unbewusst und welche bewusst ablaufen und zu guter letzt
die Frage, wie man jemanden vom Faschismus heilt', im Vordergrund.